Heimat ist mehr als nur ein Ort – „Lebenslinien“

Woher kommt eigentlich die alte Frau von gegenüber? Was hat den Hilfsarbeiter auf die Baustelle verschlagen? Warum weint der Professor bei seinen Erzählungen über die Iguazú-Wasserfälle?

Auf der Suche nach der Bedeutung von Heimat und Identität hat die Hamburger Comic-Zeichnerin und Illustratorin Birgit Weyhe mit Menschen verschiedenster Herkunft über ihre Lebensgeschichten gesprochen und auf der Grundlage der Erzählungen biografische Kurzbiografien gezeichnet. Sie selbst wurde in München geboren, verbrachte aber ihre Kindheit und Jugend in Ostafrika und kehrte erst zum Studieren nach Europa zurück.

Von 2017 bis 2019 erschienen ihre „Lebenslinien“ einmal monatlich auf der Comicseite im „Tagesspiegel“. Bei avant ist nun der Sammelband erschienen. Dafür wurden die Beiträge mit zwei zusätzlichen Bildern versehen und drei bisher unveröffentlichte Lebenswege kamen hinzu.

Birgit Weyhe (Autorin und Zeichnerin): „Lebenslinien“.
Avant-Verlag, Berlin 2020. 120 Seiten. 20 Euro

Begegnungen zwischen Nähe und Distanz

In den 30 kurzen Geschichten, die alle etwa dem gleichen Schema von Geburt, Kindheit/Jugend, Ehe/Arbeitsleben folgen, wird deutlich, dass der Begriff „Heimat“ in unserer globalisierten Gesellschaft nicht mehr einheitlich definierbar ist – und es vielleicht nie war. Heimat ist nicht nur ein Ort. Viele Menschen haben mehr als nur eine Heimat. Für einige ist es eine Sprache, für andere eine geliebte Person, ein Geruch oder die Natur, in der sie aufgewachsen sind. Menschen reisen und ziehen seit jeher durch die Welt und finden ihre Heimat auf unterschiedlichste Weise: Durch ein Studium im Ausland, aufgrund von Krieg und Flucht, aus wirtschaftlichen Gründen – oder einfach durch Zufall.

Jede Geschichte trägt als Titel den Vornamen der Person, um die es geht. Der Titel steht allein auf einer einfarbig gefassten Seite, ohne Bilder – die Neugier ist geweckt: Wer verbirgt sich hinter diesem Namen? Das Format des Bandes ist optimal für die kurzen Geschichten. Durch das häufige Umblättern gerät man in eine Art Rhythmus, der serielle Charakter verführt zum Weiterlesen.

Weyes krakelige, fast an naive Kinderzeichnungen erinnernde Figuren betonen in ihrer Einfachheit die Selbstverständlichkeit der erzählten Lebenswege und bieten dem Leser die Möglichkeit, nah heranzugehen an die Protagonisten. Jeder handelt nach bestem Wissen und Gewissen, Wertungen haben hier keinen Platz.

Das feste Schema – quadratische Panels im Gittermuster, je zwei nebeneinander und drei untereinander auf jeder Seite – hält aber auch auf Distanz. Es geht hier nicht um Identifikation, also um die Leser, sondern es geht um die Personen, die gerade erzählen. Weye hört ihnen zu, gibt ihren Lebenswegen Platz und verschafft uns damit die Gelegenheit, dies auch zu tun, fernab von Schubladendenken und Vorurteilen.

Zwangsläufig fragt man sich bald, was Heimat eigentlich für einen selbst bedeutet – und stellt fest, wie sehr man davon ausgeht, dass zu Hause nur ein Ort ist. Dabei gibt es so viele Arten von Zuhause, überall auf der Welt, die man (noch) nicht kennt.

In Zeiten der Ausgangsbeschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie sind die „Lebenslinien“ ein schöner Blick über den Tellerrand und machen generell Mut zur Offenheit gegenüber den Menschen, mit denen man zusammenlebt: Erst einmal fragen und zuhören, bevor man sich ein Bild macht – eine einfache und doch grundlegende Zutat für ein friedliches Miteinander.

Diese Kritik erschien zuerst am 14.04.2020 in: Der Tagesspiegel

Rilana Kubassa, geb. 1980, ist Literatur- und Medienwissenschaftlerin und lebt als Journalistin, Autorin und freie Lektorin in Berlin. Ihre Texte über Comics erscheinen auch im Tagesspiegel und bei Closure.

Seite aus „Lebenslinien“ (Avant-Verlag)