Als Prometheus den Adler, der ihm ein paar Ewigkeiten lang zugesetzt hatte, dann letztendlich wie ein gemeines Brathähnchen zubereitet seinen Freunden servierte (nachzulesen in André Gides „Prométhée mal enchaîné“), konnte man deswegen noch nicht davon ausgehen, dass „Mythen“ ab sofort nur noch ins Ästhetische – denn diese Pointe ist ästhetisch – entsorgt und so von den Modernen Zeiten erledigt worden wären. Au contraire, die „Arbeit am Mythos“ (Hans Blumenberg) geht weiter.
Roland Barthes hatte schon 1956 richtig formuliert, dass jede Rede vom „Mythos“ meint, dass der Mythos selbst eine Rede ist: „Der Mythos ist ein System der Kommunikation, eine Botschaft. Es wäre völlig illusorisch, einen Unterschied in der Substanz zwischen den mythischen Objekten zu behaupten. Da der Mythos eine Rede ist, kann alles Mythos werden, was in einen Diskurs eingeht.“
BusinessRoland Barthes interessierte sich bekanntlich für die „Mythen des Alltags“. Die Firmengeschichte der DC-Comics, vermutlich einer der Marktführer für einschlägige Comics, erzählt, wie solche Mythen hergestellt, kalkuliert, produziert und über den Weg des Ästhetischen in die diversen Fraktale dessen, was man früher viel zu simpel „kollektives Bewusstsein“ genannt hatte, wieder eingespeist werden. Die Mythen, mit denen DC seit 1934 handelt, sind hauptsächlich Superhelden – also Damen und Herren in drolligen Leibchen und Trikots, die pausenlos die Welt retten und die man auch an jedem Ort der Welt kennt. Allen voran natürlich Superman & Batman, globale Mythen allemal. Roland Barthes wäre entzückt gewesen, denn im Laufe der Jahrzehnte bildeten alle gezeichnete Helden der Firma DC, die sich in unzähligen medialen Spinnoffs zwischen Kitsch und Kunst, zwischen Lewis Wilson und Heath Ledger konkretisierten, und miteinander verquickten (Superman, The Justice League of America, Starman, Captain Atom, Stargirl, Catwoman & Co.) eine Art Universum.
Noch entzückter wäre Barthes, weil sein Konzept des nicht thematisch und nicht formal definierten Mythos als dynamisches System von Zeichen und Bedeutungen den überzeugendsten Beleg erfährt: dass das riesige DC-Universum spätestens seit dem lautstarken Beitritt von Alan Moore („Watchmen“) zu einer Art „Poliversum“ mutierte, in dem die Kohärenz der einzelnen, jeder Figur zunächst zugeordneten narration nicht mehr stattfindet. Die Geschichte Batmans kann in einem DC-Teil-Universum so verlaufen, in einem anderen Teiluniversum (d. h. von anderen Zeichnern und Szenaristen entworfen) ganz anders, selbst wenn die Ereignisse sich widersprechen oder dementieren. Trotzdem bleibt der Gesamt-Mythos „Batman“ verständlich, ubiquitär präsent und irgendwie doch meta-kohärent.
All dieses und noch viel mehr kann man aus dem Jubiläums-Band lernen: Die Firmengeschichte der „Detective Comics“ seit ihrer Gründung 1934 bis heute ist eine von dem langjährigen DC-Mann Paul Levitz penibel verfasste Chronik der Superhelden-Comics in den USA. Und somit auch ein relevanter Beitrag zur Geschichte der Massenmedien. Die Akkuratesse der Aufzählung, wer wann im Hause DC wem warum auf welchen Redaktionsstuhl gefolgt ist, wer wann wie Konzepte, Marketing und Corporate Identity definiert, modifiziert und erneuert hat, wer wann welche Mitarbeit (Zeichner, Szenaristen etc.) von der Konkurrenz geholt oder an die Konkurrenz verloren hat, ist bewundernswert. Dazu erfahren wir alles über die jeweiligen Besitzverhältnisse, Beteiligungen, Verzahnungen mit anderen Medien etc; schließlich wie und warum sich die politischen Kontexte der Zeiten in den einzelnen Comics niedergeschlagen haben (oder auch nicht). All das und noch viel mehr erzählt Levitz erfreulich unprätentiös, down-to-the-ground und nüchtern bilanzierend. Niemand, der über die Geschichte der Comics, über die Interdependenzen zwischen Medium und Welt nachdenkt und sich informieren möchte, wird um diesen Band herumkommen.
Das alles ist für Comic-Aficionados und solche, die es werden wollen, rasend spannend. Für Newcomer eine Goldgrube, für Leute, die sich schon auszukennen glauben, eine dringend nötige Feinjustierung, die auch noch gigantisch gut und praktisch aufgemacht ist: mit Ausklappbögen, aufwendigster Drucktechnik und mit viel Liebe fürs Seitenlayout dieses Megawhoppers von Buch.
BilderAber was machen diejenigen, die der ganze medien-, ideologie-, kunst- und sozialgeschichtliche Komplex gar nicht so furchtbar interessiert? Die schauen sich einfach begeistert grinsend die vielen bunten und teilweise sensationellen Bilder an. Wenn man die ganze Angelegenheit einmal rational herunterbricht, kann man kaum leugnen, dass Helden in HUB-affinen Kostüm nur für arg Begeisterte sexy sind. Apropos sexy: Das sexieste Bat-Girl kommt ausgerechnet aus dem konkurrierenden und spottenden Hause MAD (MAD Magazine N° 105, hier zu bewundern auf S. 378), während die meisten Super-, Bat- und Flash-Girls mit ihren Kanonkugelbrüsten nerven und die Kerle zu grenzdebilen Gesichtsausdrücken neigen. Überhaupt sind Superhelden ab einer bestimmten Altersgruppe (na ja, für intellektuell sehr juvenil gebliebene Zeitgenossen nie) höchstens als camp (im Sinn von Susan Sontag) wahrzunehmen. Das ist vermutlich ihr deutlichstes Abgrenzungsmerkmal gegenüber einer ganzen Menge von Graphic Novels und analogen Comic-Formen.
Dennoch bleibt die Faszination, die sich nicht nur bei Roy Lichtenstein (lesen Sie das bitte selbst in dem schönen und klugen, von Gianni Mercurio veranstalteten Band: „Roy Lichtenstein. Kunst als Motiv“ nach) einstellte, evidentermaßen erhalten: Gerade das Großformat und die brillante Reproduktionen des Levitz-Bandes erlaubt ein direktes Eingehen auf die eigenständigen ästhetischen Qualitäten der DC-Erzeugnisse. Seitengroße Details aus Batman-Gesichtern sind gewichtige grafische Kunst; die Blicke auf urbane Landschaften, besonders auf „Gotham“ (alle meine New Yorker Freunde sprechen von Gotham, wenn sie sich über ihr Städtchen spulen), die unterschiedlich kalkulierten atmosphärischen Darstellungen von Gewalt, Gefahr, Kraft, Geschwindigkeit, Dynamik und puritanischer Sexualität, die Präsentationen von Verbrechen und Verbrechern, von Devianz und Korruption, von moralischem Verfall und der Rettung des average American (der auch im DC-Universum und im Poliversum weiß und vermutlich protestantisch ist und sowieso family values anhängt) werden auf den großformatigen Seiten, herausgelöst aus ihrem jeweils narrativen Zusammenhang als Schaustücke präsentiert. Das ist sehr lehrreich, extrem inspirierend und funktioniert.
Mythos und OrdnungAber so ganz ungiftig ist das alles nicht: Die neuen Mythen der Superhelden, so gebrochen und negativ sie manchmal ab den 1980ern an bestimmten Zeitpunkten ihrer publizistischen und medialen Karrieren auch sein mögen (vor allem, wenn sie von Heath Ledger gegeben werden), so symbolisch, manchmal gar allegorisch sie auch agieren, und egal, welche Metaphern sie gerade auch verkörpern, benutzen oder transportieren: Solange sie Superhelden sind, bleiben ihre Ordnungsprinzipien erhalten – gut und böse, gesund und deviant, normal und irre. Sie behaupten, auf ihre Superdimensionen zugeschnitten und aller albernen Unterwäsche zum Trotz, dass die Welt, nach ihrem „Mythos der Ordnung“ (Roland Barthes) naturgesetzlich so ist, wie sie ist. Ob „bürgerliche oder kleinbürgerliche“ Ordnung, über diese Distinktion grübelte Barthes damals noch, ist in diesem Zusammenhang unerheblich: Es geht um eine als statisch zu verstehende Welt. Da liegt das Beruhigungspotezial und das erklärt die oft seltsam rückständig anmutende Ironie vom Superheldendasein im naiven Zeitungsstrip bis hin zum digitalen Wunderwerk. Superman & Co. befreien die Welt von allen Schurken – ob Kommunisten, Gangster, Terroristen und alles, was als anti-amerikanisch gesehen wird.
Apropos Anti-Amerikanismus: Angesichts der Lobreden für Alan Moore oder Neil Gaiman („Along with all else, ‚Sandman‘ is a comic strip for intellectual, and I say it’s about time“, Norman Mailer) zeigt sich deutlich die Borniertheit resp. die rührende Ahnungslosigkeit der anglo-amerikanischen Welt gegenüber anderen kulturellen Konzepten. Denn auch wenn sie aus exotischen Ländern wie z. B. Argentinien (Alberto Breccia), Italien (Hugo Pratt) oder Franko-Belgien (ligne claire) kommen, Comics für Intellektuelle oder sagen wir, viel komplexere Comics, gab es schon immer… Nichts gegen die grandiosen Bildersprachen von Moore & Co, aber man könnte fast sagen, dass die intellektuelle Schlichtheit (von Plot-Intelligenz und Implikationen) der „Watchmen“ und die Komplexität der Bildsprache des jeweiligen Comics nicht komplementär sind, sondern zu einer gewissen Inkongruenz beitragen. Eine Inkongruenz, die auch den Betrachter beim Studium dieses kiloschweren Prachtbandes beunruhigt: Wir sind ästhetisch l’art-pour-l’art-mäßig überwältigt, bezaubert, intellektuell aber nicht ausgelastet.
Das sind wir unter anderem deswegen nicht, weil die Postmodernität, die sich in den zunehmend sich selbst zitierenden Uni- und Poliversen der Superhelden ausdrückt, schon längst in den Kunstmainstream eingezogen, ach was, schon längst wieder als alter Hut hinausexpediert wurde. Die Verspätung des Populären ist bei den alten und neueren, selbstreferentiellen Superhelden deutlich zu sehen. Ihre digitale Weltsicht (und ihre damit einhergehende ideologische Verortbarkeit) verschwindet nicht durch Brechungs- und Ambiguisierungsverfahren – der Status der Superhelden als Superhelden verhindert genau das.
Großartig sind und bleiben sie durch ihre pure Bildgewalt.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 18.12.2010 auf: CulturMag
Thomas Wörtche, geboren 1954. Kritiker, Publizist, Literaturwissenschaftler. Beschäftigt sich für Print, Online und Radio mit Büchern, Bildern und Musik, schwerpunktmäßig mit internationaler crime fiction in allen medialen Formen, und mit Literatur aus Lateinamerika, Asien, Afrika und Australien/Ozeanien. Mitglied der Jury des „Weltempfängers“ und anderer Jurys. Er gibt zurzeit das Online-Feuilleton CULTURMAG/CrimeMag und ein eigenes Krimi-Programm bei Suhrkamp heraus. Lebt und arbeitet in Berlin.