Mother is watching you – „Ascender 2“

Dieser Band versammelt #6-10 der Fantasy-Serie, die derzeit bei Image Comics erscheint und die Handlung der 2018 abgeschlossenen SF-Serie „Descender“ fortsetzt. Nach der Robokalypse in „Descender“ wird die Gesellschaft neu aufgebaut – neu, aber kaum besser. Unter der autokratischen Führung der „Mutter“, einer mit Zauberkräften, nicht aber Mitgefühl gesegneten Alleinherrscherin, werden die Maschinen aus der maroden Welt verbannt. Der technologische Totalitarismus aus der Vorgängerserie wird durch ein magisches, überwachungsfreudiges Matriarchat ersetzt, dessen Symbiose aus falscher Fürsorge und Propaganda – „Mutter ist groß. Mutter liebt dich. Mutter sieht alles.“ – an George Orwells Dystopie „1984“ erinnert: Wo einst Orwells Brother herrschte, wacht nun Lemires Mother.

Jeff Lemire (Autor), Dustin Nguyen (Zeichner): „Ascender Band 2: Das Tote Meer“.
Aus dem amerikanischen Englisch von Bernd Kronsbein und Gerlinde Althoff. Splitter Verlag, Bielefeld 2020. 128 Seiten. 19,80 Euro

Auf dem Weg, den Mila, Tesla und Andy auf ihrer Quest beschreiten, begegnen wir neben exotischen Werwalen und Vampiren auch alten Bekannten wie etwa Effie (aka Queen Interim) oder dem räuberischen (Er-)Finder der Künstlichen Intelligenz Dr. Quon. Lemire lässt sich viel Zeit für ausführliche Rückblenden, um die Figuren plastischer zu gestalten. So erfahren wir die Origin Story von Mother, die im ersten Band als mächtige Magierin eingeführt wurde, nun aber sehr viel menschlichere Züge erhält. Es ist ganz charakteristisch für Lemires Welten, dass er die Figuren nicht als flache Charaktere gestaltet, sondern ihnen biografische Tiefe verleiht: Nicht nur Helden und Schurken haben eine Origin Story, die sie zu dem geformt haben, was sie – im Guten oder Schlechten – auszeichnet, sondern alle werden geprägt durch ihre Erfahrungen. In der „Descender“-Serie hat Lemire das in aller Gründlichkeit bis hin zu den androiden Daseinsformen durchexerziert, sodass auch der „böse“ Bruder Tim-22 eine Vorgeschichte bekam, die ihn menschlicher machte als jedes Fleisch und Blut. Sowohl in „Descender“ als auch in „Ascender“ kann man dem Bösen beim Wachsen zusehen.

Wie in einem Labor experimentierte Lemire in „Descender“ sämtliche Varianten von biologischer oder metaphorischer Vaterschaft durch – die meisten Vater-Kind-Beziehungen scheiterten so kläglich wie es bei Lemires prekären Familiengeschichten („Der Unterwasser-Schweißer“) so üblich ist. In „Ascender“, dies zeigt der Fokus des zweiten Bandes, sind die Mütter dran: Mother is watching you.

Apropos „Watching“: Vor etwa einem Monat wurde bekannt, dass die kanadische Produktionsfirma Lark Productions die TV-Rechte für Jeff Lemires und Dustin Nguyens Serien „Descender“ und „Ascender“ gekauft habe. Und weil auch „Sweet Tooth“ bald bei Netflix zu sehen sein soll, blüht Lemire-Fans demnächst viel Screen-Time. Die Fallhöhe bei beiden Serien ist ausgesprochen hoch, weil „Sweet Tooth“ wie „Ascender“ schon als Comic unglaublich lesens- und sehenswert sind. Für die Comic-Fortführung von „Ascender“ wird dies sicherlich auch gelten: Im dritten Band, auf den wir bis März 2021 werden warten müssen, wird Driller, der reimfreudige Arbeitsroboter aus „Descender“ wiederkehren.

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.

Seite aus „Ascender Band 2“ (Splitter Verlag)