Mehr Utopie, bitte – „Gezeichnet: Olrik“: Der letzte „Blake und Mortimer“-Band von André Juillard

André Juillard hat die meisten der „Blake und Mortimer“-Abenteuer gezeichnet, die nach dem Tod von Edgar P. Jacobs erschienen sind. Nun ist der letzte Comic des 2024 verstorbenen André Juillard draußen. Ein Anlass, einmal grundsätzlich nachzufragen, warum die Klassiker-Serie ihrem utopischen Potential nicht traut.

In der Autobiographie von Edgar P. Jacobs, die Anfang der 1980er Jahre erschienen ist, gibt es eine ganze Reihe von Fotografien, auf denen Jacobs genauso aussieht wie sein Bösewicht Colonel Olrik, der Erzfeind von Blake und Mortimer. Olriks Porträt prägt nun das Cover des neuen „Blake und Mortimer“-Bandes Nummer 27. Und der deutsche Titel „Gezeichnet: Olrik“ hat einen ironischen Doppelsinn: Dieser Olrik hat in der neuen Story nicht nur einen wichtigen Brief „gezeichnet“, im Sinne von „unterzeichnet“ – dieser Olrik, wenn man ihn als Comic-Ebenbild von Jacobs sieht, hat den neuen Band irgendwie auch mitgezeichnet. Denn alle neuen Zeichner, die sich seit über 20 Jahren an Blake und Mortimer versuchen, folgen doch sehr getreu den Spuren von E. P. Jacobs. Sodass man manchmal fast den Eindruck haben kann, die Serie zeichnet sich von selbst weiter. Und das ist mittlerweile auch ihr Problem.

Als Edgar P. Jacobs 1946 Blake und Mortimer schuf, begannen deren Abenteuer mit nicht weniger als der Apokalypse. Direkt nach dem Krieg erzählte Jacobs auf über 150 Seiten von einem Dritten Weltkrieg, von einem „Gelben Reich“ mit einem riesigen Arsenal von Atomraketen. Seine Dystopie rechnete skeptisch-konservativ mit dem Schlimmsten und spielte mit den realen Ängsten der europäischen Leser, die eben erst den deutschen Herrschafts- und Vernichtungswahn überlebt hatte. Deutlich gemäßigter ging es dann weiter: Die sehr klassischen männlichen Helden Philip Mortimer, der schottische Physiker mit dem feuerroten Vollbart, und Francis Blake, der Geheimdienst-Offizier mit dem gestutzten Gentleman-Bärtchen, erlebten klassische Abenteuer in der Tradition von Jules Verne und H. G. Wells – die Entdeckung von Atlantis und eine Reise mit einer Zeitmaschine inklusive.

Etwas Besonderes waren dieser Heldenreisen jedoch wegen ihrer Zeichnungen, genialer Zeichnungen mit einer eigentümlichen Spannung zwischen Perfektion und großzügiger fantasievoller Tiefe. Schon die Jugendskizzen von E. P. Jacobs hatten diesen genialen naturalistischen Strich. Aber dieser Naturalismus blieb nicht nur Handwerk, wie in den „Flash Gordon“-Comics, die Jacobs während des Zweiten Weltkriegs fortsetzte, als die deutschen Besatzer in Belgien alle US-Comics verboten hatten. Denn so nüchtern und naturgetreu Jacobs klare Linie immer war, so theatralisch sind die Gesten von Blake und Mortimer. Wie im expressionistischen Stummfilm gefriert die Action zur demonstrativen Pose. Und diese ungewöhnliche Spannung realistischer Expressivität ist immer passend. Der hohe Ton der Abenteuer – der wissenschaftliche Fortschrittsoptimismus von Mortimer und der staatstragende Patriotismus von Blake – wird nie lächerlich, sondern bleibt auf dem schmalen Grat einer in sich stimmigen Zeichenwelt. Hier werden die Räume der Fantasie tief und weit. Vielleicht, weil Jacobs‘ Zeichenwelt so eigenwillig klassisch wirkt, als hätte es sie schon immer gegeben.

Diesen kunstvollen Balanceakt konnte keines der Teams meistern, die „Blake und Mortimer“ seit Ende der 1990er Jahre weitererzählt haben. Yves Sente und André Juillard haben es zumindest geschafft, Blake und Mortimer eine jugendliche Vergangenheit zu geben. Sie haben für deren Männerwelt gleichsam ein paar Frauenfiguren entworfen, die jedoch die Dreiecksbeziehung von Blake, Mortimer und Olrik nie grundlegend irritieren durften. Stark waren hingegen die Ruhe und Melancholie, die André Juillard in seine Abenteuerbilder brachte und die erahnen ließen, dass hinter den Heldengesten auch eine seelische Leere lauern kann. Im neuen Band 27 ist davon leider nur wenig zu spüren: Nationalisten einer „Free Cornwall Group“ sind auf der Suche nach der legendären Insel Avalon und dem Schatz von König Artus. Sie wollen die Artus-Sage für ihren nationalistischen Terror gegen Arbeitsmigranten aus Indien und Afrika propagandistisch ausschlachten. Doch diese Hinweise auf die Geschichtspolitik der neuen Rechten in ganz Europa sind zu zaghaft und werden nicht wirklich Teil der Story. Es ist wie bei vielen neuen Bänden der Post-Jacobs-Ära: Die bekannten Zutaten werden kräftig geschüttelt, und das Ergebnis ist oft eine formlose Melange.

Bleibt zu hoffen, dass die Serienmacher sich endlich das zum Vorbild nehmen, was François Schuiten 2019 mit einem „Blake und Mortimer“-Sonderband gelungen ist. In „Der letzte Pharao“ versetzt Schuiten die beiden gealterten Helden in eine architektonische Gegenwarts-Dystopie. Unter dem Brüsseler Justizpalast entdeckt Mortimer eine vorzeitliche Pyramide, die eine geheimnisvolle Strahlung um die Welt schickt. Diese Strahlung ist aber nur scheinbar katastrophal, sie bewirkt schließlich eine grüne Zukunft, in der die Menschen per Luftschiff und Fahrrad mobil sind, Blake am Ende ein Pferd am Themse-Ufer entlangführt und eine junge Frau aus Ägypten den alten weißen Männern auf die Sprünge hilft. François Schuiten hat so den alten europäischen Comic-Geist von E.P. Jacobs fundamental erneuert. Und er hat eindrücklich vorgemacht, in welche Richtung sich Blake und Mortimer noch entwickeln könnten, politisch, psychologisch und vielleicht auch sexuell? Denn die sublimiert homoerotische Helden-WG Blake und Mortimer hat eine so reiche Zeichengeschichte, dass sie endlich etwas diverser und progressiver werden könnte.

Sich auf das Werk von Jacobs einzulassen, „bedeutet, sich auf die Suche nach einer Quelle zu machen, die unsere ganze Kindheit gespeist hat“, schreibt François Schuiten im Vorwort seines „Blake und Mortimer“-Bandes. Wie war das noch bei Ernst Bloch, dem Philosophen der Hoffnung? War für ihn die Utopie nicht etwas, „was allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“? Also eine Sehnsucht zwischen Erinnerung und Hoffnung, zwischen Geborgenheit und Abenteuer, die im Grunde jeder Mensch hat, aber die politisch erst noch gestaltet werden muss? Edgar P. Jacobs hatte sich die literarische Science-Fiction-Tradition von Jules Verne und H.G. Wells zum Vorbild genommen und ihr eine Zeichenwelt gegeben, die ohne blinden Zukunftsoptimismus die Fantasie beflügelt. Steckt in seinen Zeichnungen noch mehr? Vielleicht sogar ein Fünkchen politische Hoffnung? Zukünftige „Blake und Mortimer“-Zeichner*innen könnten sich ja mal auf die Suche machen nach dem utopischen Potential der Zeichenwelten von Edgar P. Jacobs, die dann unter Umständen weniger weiß, elitär, klassistisch und heterosexuell sind als bisher.

Yves Sente (Autor), André Juillard (Zeichner): Blake und Mortimer Band 27: Gezeichnet: Olrik • Aus dem Französischen von Harald Sachse • Carlsen, Hamburg 2025 • Softcover • 64 Seiten • 12,00 Euro

Max Bauer ist Redakteur in der ARD-Rechtsredaktion und berichtet u.a. vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, vom Europäischen Gerichtshof in Luxemburg und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Außerdem rezensiert er Comics für SWR Kultur.