Das Dutzend ist voll

Corto Maltese kannte noch keine coronabedingten Reisebeschränkungen – seine Reisen führten den eigenwilligen Helden über alle Kontinente und von einem exotischen Schauplatz zum nächsten. Nachdem er Stonehenge bereits bei den „Kelten“ bereist hatte, ist nun der sagenumwobene Kontinent „Mu“ an der Reihe. Erich von Däniken sei Dank ist hierzu Atlantis wesentlich populärer als der im Pazifik verortete Kontinent Mu, den französische Historiker im 19. Jahrhundert ins Leben riefen und damit den bis Platon zurückreichenden Mythos von Atlantis neu erzählten. Mu und Atlantis sind so real wie Mittelerde und Zamonien, aber die Vorstellung verlorener Kulturen ist so reizvoll, dass die Geschichten immer wieder funktionieren.

Hugo Pratt: „Corto Maltese 12: Mu“.

Aus dem Französischen von Reinhold Reitberger, aus dem Italienischen von Resel Rebiersch. Schreiber & Leser, Hamburg 2020. 268 Seiten. 39,80 Euro (farbig oder s/w)

Es beginnt mit Corto Maltese unter Wasser, in Gesellschaft sprechender Fische und redseliger Relieffiguren der Maya. Reichlich unwirklich, mag man meinen, und tatsächlich: „Mu“ wird in dieser Halbwelt zwischen Rausch und Wirklichkeit bis zum Schluss fortfahren. Als der Held von seinem Tauchgang zurückkehrt, findet er sich inmitten des Corto-Maltese-Ensembles wieder, so als ob alle Freunde noch einmal zum Abschied zusammenkämen: Rasputin, Levi Colombia, Soledad Lokäarth, Jeremiah Steiner, Golden Rosemouth etc. Wem nun schon schwindelig ist, dem werden die Pilze, die Corto noch zu sich nehmen wird, nicht guttun.

Der Comic setzt in einer Zwischenwelt zwischen Traum und Wirklichkeit ein, Corto ist „trunken vor Sauerstoff“ und Rasputin wird hypnotisiert. Soledad wird von dem Schiff auf eine nahe liegende Insel entführt, Corto nimmt die Verfolgung auf und gelangt in ein unterirdisches Labyrinth. Schon bevor Corto von seltsamen Pilzen probiert (das kennen wir schon aus „Und immer ein Stück weiter“), scheint die Welt aus den Fugen geraten zu sein: „Je höher ich hinaufsteige, desto weiter nach unten scheint es zu gehen.“ Es wird immer unglaublicher: Corto kämpft gegen seinen eigenen Schatten, gegen Spinnenmänner und kann seiner Wahrnehmung immer weniger trauen: „Was ist die Traumwelt und was die Realität? – Ich kenne keinen Unterschied mehr.“ Wir auch nicht.

Traum, Rausch und Wirklichkeit geraten ebenso durcheinander wie oben und unten, links und rechts oder früher und jetzt. Wie so oft liegt Pratts Fokus nicht auf einer kohärenten Handlung, sondern eher auf der Entfaltung der Figuren und auf der Erzeugung einer Stimmung. Nach den vorigen Bänden mit rund 1.500 Seiten Handlung kennt man die wiederkehrenden Posen Corto Malteses, die immer gleichen Profilansichten, aber immer bleibt der kosmopolitische Weltenbummler ein Fremder: verschlossen, rätselhaft und widerspruchsvoll. In grobem Strich gezeichnet, könnte man sagen, und das trifft im Laufe der Corto-Geschichten zwischen 1967 und 1991 auch zunehmend auf Pratts Illustrationen zu, die Cortos Welt in immer breiteren Umrissen und mit immer weniger Details zeigen.

Zunehmender Reduktionismus: Seite aus „Corto Maltese: Mu“ (Schreiber & Leser)

In „Mu“ zeigt sich der Reduktionismus Pratts auch an der Dominanz der Sprechblasen, die jegliche Hintergründe völlig obsolet machen. Immer mehr stilisiert Pratt seinen Helden, bis dessen Konturen fast zu einem abstrakten Zeichen werden. Inzwischen ist der Kapitän selbst ein Mythos geworden, dessen Namen man bloß zu raunen, dessen Umrisse man bloß anzudeuten braucht, um ihn lebendig werden zu lassen. Damit hat sich Pratt von den Qualitäten der „Südseeballade“ weit entfernt, und die Faszination bleibt nur erhalten, weil der Mythos so wirkmächtig ist.

„Mu“ war für Hugo Pratt der Abschluss seiner zeitlebens wichtigsten Serie, die seit den 1970ern seinen Ruhm über die Grenzen seiner zeitweiligen Wahlheimat Südamerika hinausgetragen hat, bis nach Europa, wo er nun auch in der französischen Comic-Szene als Erneuerer des Comics wahrgenommen wurde, und bis in die USA, wo etwa Frank Miller ihm Tribut zollte.

Schreiber & Leser hat die Bände von „Corto Maltese“, entsprechend der gleichzeitig initiierten französischen Neuausgabe bei Casterman, in der chronologischen Reihenfolge der Erstpublikationen herausgegeben, in der Zusammenstellung etwas abweichend von der hierzulande bislang verfügbaren (unvollständigen) Carlsen-Ausgabe der 1980er und 1990er Jahre sowie den Publikationen bei Kult Editionen aus den 2000ern.

„Mu“ ist mit seinen 268 Seiten viel umfangreicher als die anderen Bände – auch deshalb, weil die Panels sich auf drei (anstatt der anfangs vier) Zeilen verteilen. Pratt hatte die Seiten so gestaltet, dass die Panels sich je nach Publikationsformat unterschiedlich arrangieren lassen. Die Alben sind seit „Abenteuer einer Jugend“ (Bd. 9, dt. 2018) auf drei Zeilen angelegt, sodass sich der enorme Umfang von „Mu“ etwas relativiert, zumal auch die reich illustrierte Einführung mit 96 Seiten epische Ausmaße hat.

Seite aus „Corto Maltese: Mu“ (Schreiber & Leser)

Mit „Mu“ geht nun ein Langzeitprojekt des Verlags zu Ende: Im August 2015 erschien mit der „Südseeballade“ der erste Band der Reihe, die damit erstmals und konsequent sowohl in Farbe und in Schwarzweiß erscheint. Ob man die kolorierten oder die originär-schwarzweißen Ausgaben bevorzugt, ist nicht weniger als eine Glaubensfrage.

Die Schwarzweißausgaben erwiesen sich als großer Erfolg, sodass weit mehr als die ursprünglich anvisierten 300 Exemplare gedruckt wurden. Filipe Tavares von Schreiber & Leser hierzu: „Es hat sich in der Tat gezeigt, selbst zu unserer kleinen Überraschung, dass ‚Corto Maltese‘ der Inbegriff des Steadysellers sein dürfte. Ein bisschen wie der Duracell-Hase, wenn das einem noch was sagt. Und das gilt für beide Varianten, sodass die ersten vier Schwarz-Weiß-Ausgaben mittlerweile schon verlagsvergriffen sind.“

Da die Comics zuerst teilweise in Kurzformaten publiziert wurden, sind die Kompilationen im Detail verlegerische Entscheidungen, welche Kurzgeschichten zusammenpassen. Besonders sichtbar wird dies bei den Ausgaben von „Die Kelten“, wo sich die Kult-Editionen-Ausgabe (2003) von der Schreiber-und-Leser-Veröffentlichung inhaltlich unterscheidet. „Mu“ (zuerst 1988-91) ist der letzte von Pratt selbst gestaltete Maltese-Band. Seit 2015 wird der Corto-Kosmos durch das spanische Comic-Duo Juan Díaz Canales und Rubén Pellejero erweitert, bislang um drei Bände, die in Frankreich wie in Deutschland sehr erfolgreich sind. Diese sind parallel zu der Casterman-Ausgabe auch in Deutschland erschienen, sodass die Bände 13 bis 15 entgegen der Veröffentlichungschronologie bereits vor „Mu“ bei Schreiber & Leser vorgelegen haben. Insofern ist die Reise Corto Malteses noch nicht ganz vorüber.

Mit „Mu“ wird ein Band wieder verfügbar, der zuletzt 2008 bei Kult Editionen erschien, aber rasch verlagsvergriffen war. Nun ist es kaum eine Frage, ob dieser Band eine sinnvolle Anschaffung ist: Wer Corto Maltese bis hierhin treu gewesen ist, muss es bleiben, wohingegen kaum jemand mit „Mu“ einen leichten Einstieg in die abenteuerarme Abenteuerwelt des Helden findet. Die spannendere Frage, die Gretchenfrage der Prattianer, ist: farbig oder schwarzweiß?

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.

Seite aus „Corto Maltese: Mu“ (Schreiber & Leser)