Das abstrakte Rechteck, mit Leben gefüllt

© GKIDS

Robyn (Honor Kneafsey) will Wölfe jagen, genau wie ihr breitschultriger Vater (Sean Bean), der jeden Morgen in den Wald aufbricht, um dort Fallen aufzustellen. Stattdessen soll sie in der sicheren Stube bleiben und die Hausarbeit machen. Das irische Kilkenny des Jahres 1650 bietet ihr als Mädchen nicht viele Optionen. Aber Robyn stiehlt sich immer wieder davon, schlüpft durch die Stadtmauer und folgt ihrem Vater in den Wald, der mit seinen blätterrauschend knorrigen Ästen nicht nur eine neue Welt, sondern gleich ein ganz anderes Leben zu verheißen scheint.

Einmal wird in „Wolfwalkers“, dem neuen Film des irischen Animationsstudios Cartoon Saloon („The Secret of Kells“), als Ablenkungsmanöver eine Herde Schafe aus einem Käfig freigelassen. So wie die Tiere hineingepfercht wurden, so fallen sie als quadratischer Block heraus. Dann dauert es nur noch den Bruchteil einer Sekunde, bevor sie unter lautem Blöken auseinander stieben und von links nach rechts und wieder zurück durch den Bildschirm hoppelnd für großen Tumult sorgen. Animationszauber, der die Dekonstruktion all seiner Formen bis hin zu ihrer Auflösung vollführt.

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Während eines ihrer geheimen Streifzüge trifft Robyn auf das rothaarige Mädchen Mebh (Eva Whittaker), eine der letzten Angehörigen vom Stamm der Wolfwalker. Sie leben bei den Tieren, können mit ihnen sprechen und verfügen über heilende Kräfte. Weil Robyn ein kluges Mädchen ist, geht ihr auf, dass die Wölfe nicht die feindlichen Bestien sind, für die sie Lord Protector Cromwell (Simon McBurney) den Stadtbewohnern verkauft. Wenn sie gemeinsam mit Mebh auf einem Ast sitzt, in der Hand einen Korb mit frisch stibitzten Broten, und Kilkenny betrachtet, vermittelt eher die Stadt den Eindruck eines feindlichen Forts. Aus der Ferne sieht sie aus wie ein von dicken Mauern eingefasstes Quadrat, gefüllt mit gleichförmigen Dreiecken. Schwarz und grau, die rechteckigen Schafweiden und Äcker im Umkreis lassen an Friedhöfe denken. In „Wolfwalkers“ sind zuweilen zwei Perspektiven gleichzeitig in einer Einstellung zu sehen: Der Bildvordergrund den drei Dimensionen entsprechend mit Raumtiefe gezeichnet, der Hintergrund wie eine flach aufgefaltete Draufsicht. Auf diese Weise nimmt die abstrakte Form des eingemauerten Kilkenny die komplette obere Hälfte des Bildes ein. Kein Horizont zu sehen, geschweige denn ein Stück vom Himmel.

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Doch kommt Robyn der Stadt wieder näher, erweisen sich ihre Formen und Silhouetten als weitaus unbändiger als es das Bestreben des englischen Lord Protektor Cromwell ist, der in Kilkenny Land und Leute zähmen will und dessen schnarrende Stimme, sobald er sich in Rage redet, sicher nicht zufällig an Donald Trump erinnert. Das Gegensatzpaar Wildnis/Zivilisation spiegelt in „Wolfwalkers“ den historischen Konflikt zwischen England und Irland, aber nicht nur der Plot, sondern auch der Zeichenstil arbeiten daran, die entsprechenden Verhärtungen abzuschaffen. Verschiedenfarbige Dachschindeln, aus der Ferne zu schwarzen Dreiecken verschmolzen, machen aus der Nähe den Eindruck eines bunten Flickenteppichs, voll beladene Marktstände ächzen unter den feilgebotenen Waren und wenn in ihrer Mitte Musiker aufspielen, tanzen die Leute auf den Straßen. Das abstrakte Rechteck, mit Leben gefüllt.

Die regelmäßige Bauweise der Gebäude erweist sich genau genommen sogar als Vorteil: Selbst die Gestalt einer Wölfin annehmend kann Robyn, sobald es brenzlig wird, problemlos von Dach zu Dach springen und sich so ihre Stadt auf ganz neue Weise zunutze machen. Regisseur Tomm Moore ist genauso flexibel. Er zeichnete zu Beginn seiner Karriere Comics und scheint noch immer wie ein Comiczeichner zu denken, der statt isolierter Panels ganze Seitenarchitekturen entwirft. Immer wieder teilt er den Bildschirm horizontal oder vertikal in einen mehrfachen Splitscreen auf, nutzt Bildelemente wie die Speere der Soldaten als Grenze zwischen den einzelnen Einstellungen. Fenstergitter, rautenförmige Bodenfliesen, die rechtwinklig zulaufenden Holzbalken der Fachwerkhäuser funktionieren als Symbole für die Zwänge der Figuren einerseits – aber andererseits erweitern sie die Möglichkeiten des Zeichners ins schier Unendliche. Sie umgrenzen immer neue Flächen, die es zu füllen gilt.

Diese Kritik erschien zuerst am 23.12.2020 auf: perlentaucher.de

Wolfwalkers
Irland 2020

Regie: Tomm Moore, Ross Stewart – Drehbuch: Will Collins – Produktion: Tomm Moore, Stéphan Roelants, Nora Twomey, Paul Young – Musik: Bruno Coulais – Laufzeit: 103 Minuten. Auf Apple TV+

Katrin Doerksen, Jahrgang 1991, hat Filmwissenschaft nebst Ethnologie und Afrikastudien in Mainz und Berlin studiert. Neben redaktioneller Arbeit für Deutschlandfunk Kultur und Kino-Zeit.de schreibt sie über Comics, aber auch über Film, Fotografie und Kriminalliteratur. Texte erscheinen unter anderem im Perlentaucher, im Tagesspiegel oder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Sie lebt in Berlin.