Französische Kleinstädte in Literatur und Kunst sind traditionell ziemlich giftige Orte – bei Guy de Maupassant und Flaubert so bedrückend wie in den Filmen von Claude Chabrol. Le Troncy im Departement Seine et Oise ist so ein deprimierendes Stätdchen. Die Fassade kleinbürgerlicher Wohlanständigkeit taugt nicht viel, wenn etwas passiert, was die dumpfe Routine stört. In diesem stickigen Ambiente hatte 1950 der Romancier Géo-Charles Veran seinen berühmten Roman „Jeux pour mourir“ angesiedelt. Eine traurige und ziemlich hässliche Geschichte über ein paar junge Burschen, die mit der Enge nicht zurechtkommen und beinahe zwangsläufig Mord im Sinn haben. Am Ende sind sie, schuldig oder unschuldig, allesamt gewaltsam zu Tode gekommen und andere Menschen auch.
Die vier Tage im August 1950 (vom 26. bis zum 29.), an denen die Kleinstadtfarce mit tödlichem Ausgang spielt, hat Jacques Tardi in den Comic „Tödliche Spiele“ umgesetzt und damit seinem kriminalliterarischen Universum der 40er und 50er Jahre, das er so fulminant mit der Malet-Bearbeitung „120, Rue de la Gare“ begonnnen hatte, einen weiteren Baustein hinzugefügt.Pro Tag braucht Tardi einen Band (macht also insgesamt vier Bände), pro Seite erlaubt er sich zwischen vier und sechs Panels. An diesem schlicht formalen Umstand lässt sich ermessen, wie viel Platz und Zeit er sich zum Erzählen lässt. Der Rhythmus ist seiner realen Zeit und seines Zeitpunkts angemessen – in Le Troncy rinnen die Stunden zäh, es ist heiß, nur die Eisenbahnzüge, die an dem Städtchen vorbeirauschen, strukturieren den Fluss des ewig Gleichen. Die wenig variable, aber höchst kunstvolle Seitenaufteilung, die Tardi vornimmt, korrespondiert auch mit der Struktur des Erzählens selbst: Die Geschichte beginnt mit dem Bericht des Leichenträgers, der in die Kneipe kommt, sich über die Hitze beklagt und ein Seil erwähnt. Sie endet mit einer analog gezeichneten Kneipenszene, in der der Leichenträger zu berichten weiß, was mit besagtem Seil geschehen ist. Seine beiden Zuhörer, deutliche Doubles von Oliver Hardy, zeigen den gleichen mürrischen und gelangweilten Gesichtsausdruck.
Die Provinz ist nicht leicht zu erschüttern, wenn das Leben wieder in geordneten Bahnen verläuft. Sie ist genauso stoisch wie Tardis beinah monochrome Hintergründe, wenn menschliche Beziehungen explodieren. Wenn Tardi aus den engen Räumen, wo er die Konfrontation von Menschen ansiedelt und sozusagen „störungsfrei“ vor flächig angelegten Hintergründen stattfinden lässt, hinausgeht, dann kommt sein eigenartiger Detailrealismus zum Tragen, diese einzigartige Mischung aus penibelst rekonstruierten Gebäuden, Straßenzügen, Werbeplakaten und dergleichen mehr und karikaturhaften, reduzierten und abstrahierten menschlichen Gestalten. Die Kleinstadt ist nicht Kulisse, sondern Handlungsträger, „Hauptfigur“, Motivation für die Handlungen von Figuren, ohne dass Tardi dies je laut sagen müsste. Das geduckte, zwischen anderen Häusern klemmende Polizeigebäude mit dem schicken Sportwagen des Chefs davor sagt alles: Dort geht es dumpf und brutal vor, dort herrscht die kleine, banale und alltägliche Korruption, dort sind Träume von Karriere und Aufstieg schon gleich ausgeträumt. Und wenn Dunkelheit über Le Troncy liegt, dann ist nur der Horizont erleuchtet, vielleicht von den Lichtern der Großstadt in unerreichbarer Ferne. Die einzigen Lichter bei Nacht kommen hell und gelb aus den vergitterten Fenstern der Polizei oder nur von den funzeligen Dynamos zweier fahrradfahrender Flics. Aus dem Haus des brutalen, korrupten, versoffenen und allmählich ins Delirium tremens torkelnden Bullen Maringer dagegen kommt kein Licht, sondern eine dumpfrote Farbfläche.
Diese Detailbemerkungen nur als bescheidener Hinweis darauf, wie sehr der Comic inzwischen eigene semantische Mittel des Erzählens gefunden hat. Mittel, die nicht nur solche der artistischen Dekoration, des Ornaments sind und nur auf der Bildebene funktionieren, sondern Mittel, die direkt Anteil an der Narration haben.Tardis Comic-Welten eröffnen komplexe Möglichkeiten von Interpretation, weil sie verschiedene Kontexte anbieten und anspielen. Allein seine düstere Farbgebung assoziiert die Melancholie von Films Noirs (des frühen Louis Malle etwa) und Romans Noirs und artikuliert so den gesamten Kontext von verlorener Jugend, von (noch) verpfuschter Rebellion und von einem Land, das noch im fünften Jahr nach der Befreiung auch an der Dumpfheit der Kollaboration zu laborieren hat. Die beiden Wirte in der oben erwähnten Kneipe sehen nicht nur aus wie Oliver Hardy, der eine hat auch ein sehr merkwürdiges Bärtchen mit jener weltweiten politischen Symbolkraft, die 1950 bestimmt nicht vergessen war. So kann man die Bilder von Tardi auch verstehen.
Welche der Optionen man auch aufgreifen möchte: Naiv und unmittelbar lassen sich Comics vielleicht noch durchblättern. Ihren Bedeutungsreichtum und ihren ästhetischen Reiz aber entfalten sie vollständig erst dann, wenn man bereit ist, genau hinzusehen. Und das gilt schließlich für alle Kunst.
Diese Kritik erschien zuerst 1994 in: Der Freitag
Thomas Wörtche, geboren 1954. Kritiker, Publizist, Literaturwissenschaftler. Beschäftigt sich für Print, Online und Radio mit Büchern, Bildern und Musik, schwerpunktmäßig mit internationaler crime fiction in allen medialen Formen, und mit Literatur aus Lateinamerika, Asien, Afrika und Australien/Ozeanien. Mitglied der Jury des „Weltempfängers“ und anderer Jurys. Er gibt zurzeit das Online-Feuilleton CULTURMAG/CrimeMag und ein eigenes Krimi-Programm bei Suhrkamp heraus. Lebt und arbeitet in Berlin.