Deduktion zum Mitmachen und Anfassen

Langeweile ist das Schlimmste für Holmes. Umso erfreuter ist er, als endlich wieder Leben in die Bude kommt – vor allem, wenn dabei ein spannendes Rätsel herausspringt. Das sieht ganz so aus, denn ein Polizist gibt einen völlig verwirrten Fremden ab, der im Nachthemd durch die Straßen wankte und behauptet, er sei ein alter Freund von Watson. Sherlocks Kompagnon bestätigt identifiziert die seltsame Erscheinung als den Arzt Herbert Fowler, der Watsons ehemalige Praxis übernommen hat. In Fowlers Wohnung findet man seinen Mantel nebst einer Eintrittskarte zu einer mysteriösen Theateraufführung, die der Arzt am Vorabend besuchte.

Im Lyric Theatre findet Holmes und der staunende Watson am Tickethäuschen einen ganzen Block voller Coupons, die offenbar an die Gäste verteilt wurden und ebenfalls die aufwendigen chinesischen Schriftzeichen aufweisen, die auch die geschenkte Eintrittskarte zieren. Auf den Spuren des schlafwandelnden Fowler lokalisieren Holmes und Watson schließlich die Unfallstelle, wo sich eine Perücke und eine abgebrochene Haarnadel finden, die Holmes mit einer Wasserleiche in Verbindung bringt: Fowlers Begleitung der nächtlichen Fahrt, eine Verkäuferin bei Harrods, musste wohl ihr Leben lassen. In der Albert Hall wohnt Holmes in Verkleidung schließlich der nächsten Vorführung des Amazing Wu Jing bei, bei der wieder unterschiedlichste Berufsgruppen auf der Bühne versammelt und mit einem halluzinogenen Pulver bestreut werden, das sie für eine Entführung gefügig machen soll.

Cyril Lieron, Benoit Dahan (Szenaristen), Benoit Dahan (Zeichner): „Im Kopf von Sherlock Holmes“.
Aus dem Französischen von Harald Sachse. Splitter Verlag, Bielefeld 2021. 96 Seiten. 28 Euro

Mind Palace, Gedankenpalast – so bezeichnet der Holmes in der brillanten BBC-Fernsehserie von Steven Moffatt seine Technik, alles Wissen zu sammeln, zu kategorisieren und im Gedächtnis geordnet in einem ausschweifenden Gebäude abzulegen. Erfunden hat Moffatt diesen Kunstgriff nicht, vielmehr praktizierten diese Gedächtnisübung schon die alten Griechen, die das Konzept entwickelten, Eindrücke und Erinnerungen in einem fiktiven Gebäude abzuspeichern, um sie dort jederzeit finden und nutzen zu können. Diesen Kniff nutzten dann die Meisterredner Roms, allen voran Cicero, um ihre langen, komplexen Reden im freien Vortrag fehlerlos darzubieten, ebenso wie mittelalterliche Mönche sich auf diese Weise biblische Texte einprägten.

Diese Idee, auch als loci, Gedankentheater, Gedankenpalast oder Gedächtniskunst bekannt, legen Cyril Lieron und Benoit Dahan ihrer durch und durch originellen Holmes-Geschichte zu Grunde, die inhaltlich alle typischen Elemente von Doyles Meisterdetektiv auffährt: Holmes langweilt sich, vertreibt den Ennui mit Drogen, ein spannender Fall stolpert über seine Schwelle, der seinen Ehrgeiz weckt, und mit dem staunenden Watson beginnt er die Jagd. „Das Spiel ist eröffnet!“, verkündet er am Ende von Teil 1, nachdem er seine Kenntnisse in Spurensicherung und seinen Wissensfundus in Chemie unter Beweis gestellt hat. Deduktion, also die Entwicklung einer übergreifenden These auf Basis einzelner Indizien, ist die Devise. Holmes ist dabei ebenso soziopathisch wie sein Genosse in der Fernsehserie, wobei Lieron und Dahan immer wieder auf den Literaturkanon verweisen (man erinnert sich wiederholt an die Erlebnisse in der „Studie in Scharlachrot“) und auch die üblichen Protagonisten Lestrade und Mycroft auftreten lassen.

Was den besonderen Reiz des Bandes ausmacht, ist allerdings die optische und auch praktische Aufmachung, die ebenfalls von Dahan besorgt wird: Das Cover ist eine dreidimensionale Darstellung von Holmes, der in seinen Gedankenpalast steigt, ein Motiv, das sich in vielen Variationen durch das gesamte Geschehen zieht. Holmes marschiert durch Treppenhäuser, Köpfe und Gebäude, hängt dabei seinen Gedanken nach und spinnt Thesen, die zur besseren Übersicht nummeriert sind. Dabei wird auch die sprichwörtliche vierte Wand durchbrochen und man animiert, weitere Hinweise zu enthüllen, indem Seiten umgeklappt oder gegen das Licht gehalten werden müssen, um aufschlussreiche Details zu entdecken. So wird das kleine Kunststück vollbracht, der mittlerweile stattlichen Fülle von Holmes-Adaptionen eine höchst einfallsreiche, originelle Facette hinzuzufügen – die Wissenschaft der Deduktion zum Anfassen und Mitmachen sozusagen. Bei Splitter erscheinen die beiden Teile in einem Double-Band, volles Lese- und Anwendungsvergnügen garantiert.

Dieser Text erschien zuerst auf Comicleser.de.

Holger Bachmann ist Autor diverser Bücher und Aufsätze zur Film- und Literaturgeschichte. Neben Comicleser.de schreibt er auf kühleszeug.de über Konzerte und geistvolle Getränke.

Seite aus „Im Kopf von Sherlock Holmes“ (Splitter Verlag)