Die Aktis ist ein Raumschiff wie jedes andere auch, zumindest in diesen Gefilden der Galaxis: Es sieht aus wie ein überdimensionaler fliegender Koi-Karpfen und kann sich bei Bedarf wendig wie ein Fisch durchs All bewegen. Manövrierfähigkeit ist in dieser unbestimmt weit entfernten Zukunft gefragt. Riesige Architekturen, Gebäude- und Planetenteile driften frei durch den Raum. Die Freelancer-Crew der Aktis ist unterwegs, um verfallene Space-Ruinen zu restaurieren oder alte Büros zu Wohnungen aufzumöbeln.
Als Mia, die Hauptfigur von Tillie Waldens neuer Graphic Novel „Auf einem Sonnenstrahl“, auf der Aktis anheuert, trifft sie auf einen mehr oder minder eingeschworenen Trupp, bestehend aus der Kapitänin Charlotte, ihrer Frau Alma – beide mit einer nicht ganz legalen Vergangenheit in den Pionierzeiten der Allbesiedelung –, Almas rebellischer Nichte Jules und Elliot. Elliot, so erfahren wir, ist nichtbinär, verortet sich also außerhalb der Zuschreibungen als Mann oder Frau – und spricht nicht. In der deutschen Übersetzung wird für die Figur das Pronomen „xier“ (angelehnt an eine Mischung aus sie und er) verwendet.
Intergalaktisches InternatDer zweite Erzählstrang dieses 540 Seiten dicken Space-Opus spielt sich ein paar Jahre zuvor an einem intergalaktischen Internat ab, das sich zunächst nicht weiter von irdischen Pendants unterscheidet. Alles dreht sich um Eifersüchteleien, Intrigen und Streiche. Mit einem kleinen Unterschied: Von ihren Bänken aus blicken die Schülerinnen in die tiefschwarzen, sternengesprenkelten Weiten des Alls, die nur ab und an erleuchtet werden durch farbintensive Galaxien und Sternformationen. Die Schulsportart heißt Lux und besteht darin, in den Fisch-Raumschiffen durch eine Art Windkanal zu düsen und dabei winzige „Planeten“ einzufangen.
Mittendrin verliebt sich die eigensinnige Mia in die neue – und auf der Beliebtheitsskala ganz unten angesiedelte – Schülerin Grace. Dass Grace später auf schmerzliche Weise in den Weiten des Alls verschwindet, führt dazu, dass die beiden Erzählebenen immer mehr ineinanderfließen und schließlich in einen ziemlich abenteuerlichen Plot münden.
Tillie Walden, geboren 1996, ist so etwas wie ein Shooting-Star der Comicszene. Mit 22 Jahren veröffentlichte sie ihre Memoiren in der Coming-out-Story „Pirouetten“, danach folgte das fantastisch angehauchte Road-Comic „West, West Texas“. Mit ihren bisher fünf Büchern hat sie sämtliche bedeutende Preise der Branche abgeräumt. In dem nun auf Deutsch vorliegenden „Auf einem Sonnenstrahl“, erschienen im Reprodukt-Verlag, kann sich ihr organisch-atmosphärischer Zeichenstil so richtig entfalten.
Queere Lebensrealität
Tillie Walden steht für eine neue Generation junger Comicautorinnen, die das Medium selbstbewusst nutzen und regelrecht kapern, um diversen Lebensrealitäten eine Bühne zu geben. Bemerkenswert an der Geschichte ist, wie selbstverständlich und lässig Walden hier eine durch und durch queere Zukunftsversion inszeniert. In der nebenbei tatsächlich kein einziger Mann vorkommt – was beim Lesen zunächst nicht einmal auffällt und auch für die Story überhaupt keine Relevanz hat.
Als Setting schnappt sich Walden die Science-Fiction, um ihre eigene Version einer Zukunft zu kreieren, wie sie ihr gefällt. Eine queere Identität ist hier ganz einfach das vorherrschende Gesellschaftsmodell, ohne dass das in irgendeiner Form thematisiert oder bewertet wird.Dazu kommt, dass so etwas wie eine Kernfamilie (wohlgemerkt eine rein weibliche) nur im letzten Winkel des Universums zu existieren scheint, auf einem „verbotenen“ Planeten, auf dem die Familie von Grace komplett abgeschottet lebt. Im Mittelpunkt steht das Konzept der Wahlfamilie oder erweiterten Familie, in der sich Freunde und Gleichgesinnte zusammentun. Dabei thematisiert „Auf einem Sonnenstrahl“ auch die Zerrissenheit zwischen biologischer und Chosen Family, den Schmerz, den die Suche nach Rückhalt auf der einen Seite und das Bedürfnis nach Loslösung auf der anderen Seite verursacht – ein Gefühl, das zur Pubertät gehört wie die Pickel auf der Nase.
Achterbahnfahrt mit Weitblick
Die emotionalen Achterbahnfahrten, die in der Geschichte mehr Gewicht haben als technische Details im Sinne einer Hard Science-Fiction, werden auch transportiert durch die schier atemberaubenden Zeichnungen. Man verliert sich leicht in den durch den Raum floatenden Monumentalbauten, den Landschaftspanoramen ferner Planeten und den unendlichen, tiefschwarzen Weiten, die sich mit intensiven Farb- und Lichtspielen sprühender Sternformationen abwechseln.
Man merkt der Komposition an, dass Tillie Walden bei Scott McCloud, dem Großmeister der Comictheorie, Unterricht hatte. Die Texanerin sagt selbst, dass sie durch Manga-Ästhetik und die Animationsfilme der japanischen Ghibli-Studios inspiriert ist, hat aber ihre ganz eigene, erfrischende Bildsprache entwickelt.STANDARD-Karikaturist Oliver Schopf, der diesmal für Pictotop sein Expertenauge zur Verfügung stellte, fühlt sich an japanische Farbholzschnitte erinnert: „Die Zeichnungen sind im Detail nicht immer perfekt gezeichnet, immer angedeutet, sodass das Auge ergänzen muss. Daher wirken die Bilder auch sehr lebendig und nicht durchgestylt. Dennoch sind sie im Gesamtbild perfekt und harmonisch realistisch.“
Auffällig ist auch die Farbgebung, die eine eigene Bedeutungsebene schafft: Jeder Erzählstrang hat eine Grundfarbe. Neben dem vorherrschenden Schwarz sind die Bilder in Rostrot, Ocker, Türkis, Blassblau oder auch Weiß getaucht. „Das ist faszinierend, weil die Bilder nicht bunt sind, sondern konzentriert auf einen Farbklang in einem bestimmten Bereich des Farbspektrums“, sagt Oliver Schopf. „Das erzeugt eine Sogwirkung des Sehens, das mit vielerlei bunten Farben nicht möglich wäre.“
Dieser Sog trägt auch hinweg über so manche weiße Flecken in der Story. Oft bleibt es bei Andeutungen, etwa über die Hintergründe der Ausbreitung der Menschheit im All, den Kampf um Ressourcen und politische Querelen in der Galaxis. Doch Tillie Walden verfügt über einen feinen Sinn für das Magische, wodurch man sich auch nur kurz fragt: Warum braucht hier niemand Raumanzüge? Auf welchem Planeten wohnen eigentlich all die Männer? Es ist einfach egal. Das spiegelt möglicherweise eine neue Generation, die der gewohnten binären Weltordnung ihre eigene Vision vorsetzt. Wobei all das natürlich auch im Comic gar nicht so neu ist. Die queere latinoamerikanische Punk-Gang der „Love and Rockets“-Saga der Brüder Hernandez lässt grüßen – auch weil hier wie bei Tillie Walden Mechanikerinnen eine gewichtige Rolle einnehmen.
Veröffentlicht hat die 25-Jährige „On a sunbeam“, so der Originaltitel, bereits ab 2016 als gratis Webcomicreihe – ganz bewusst, um damit auch Leser:innen zu erreichen, die sich keinen dicken Comicwälzer leisten wollen. Denn wie Tillie Walden auf der Webseite schreibt: „Anything is possible, kids!“
Diese Kritik erschien zuerst am 13.06.2021 auf dem Standard-Comicblog Pictotop.
Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Auf einem Sonnenstrahl“.
Karin Krichmayr arbeitet als Wissenschaftsredakteurin für Der Standard. Außerdem betreibt sie für die österreichische Tageszeitung den Comicblog Pictotop.