Feministisches Roadmovie – „West, West Texas“

Diese Menschen sind nicht glücklich, das sieht man schon auf den ersten Seiten. Bea steht wie verloren mit einem Koffer an der Haltestelle und steigt dann doch nicht ein, als der Bus kommt. Lou fährt haarscharf im Auto an ihr vorbei, nachdem Bea einfach losgelaufen ist. Sie flucht, weil ihr Getränk überschwappt. Es ist dichter Verkehr, der Autos und Menschen in Abgaswolken hüllt.

An einer nahe gelegenen Tankstelle treffen Bea und Lou aufeinander. Sie kennen sich aus ihrer Nachbarschaft und scheinen das Gegenstück der jeweils anderen zu sein. Lou trägt rote Jeans und blaue Jacke – bei Bea ist es umgekehrt.

„Halt, warte. Ich… hab‘ meinen Bus verpasst und es fährt keiner mehr, glaub‘ ich.“

Karge Dialoge

Lou wird Bea, die gerade 18 Jahre alt geworden ist und von Zuhause abhaut, mitnehmen. Sie wird ihr das Autofahren beibringen. Und irgendwann werden sie einander auch von ihren Verletzungen erzählen. Aufbruch, Konfrontation mit der eigenen Identität und Bewältigung – für „West, West Texas“ hat Tillie Walden die typischen Elemente von Coming-of-Age-Geschichten montiert. Sie nehmen in dem mehr als 300 Seiten starken Comic allerdings keinen großen Raum ein. Und auch die Dialoge sind eher karg:

„Es ist spät, du kannst gern die Augen schließen. Wir brauchen noch eine gute Stunde.“

Tillie Walden (Autorin und Zeichnerin): „West, West Texas“.
Aus dem amerikanischen Englisch von Barbara König. Reprodukt, Berlin 2019. 320 Seiten. 29 Euro

Tristesse in Lila

Tillie Walden spielt in ihrem Comic mit Formen und Farben. Die Straßenszenen zeichnet sie in monochromen Lila-Tönen und unterstreicht so deren Tristesse. Die Tankstelle ist dagegen ganz bunt und heimelig. Die Hauptrolle in „West, West Texas“ aber spielt die Landschaft. Tillie Walden schöpft alle Mittel des Mediums Comic aus und inszeniert die überwucherten Hügel und schroffen Berge so, dass sie über die Panelgrenzen hinauswachsen. Mitunter wächst eine Landschaft aus dem Kopf der Protagonistinnen, so als würden sie gerade daran denken.

„Reiseführer sind ein Spiel mit der Täuschung. Meere sind Eigentum des Geistes. Alle Landkarten sind erfunden. Alle Reisenden überqueren eigene Grenzen“, dieses Zitat der feministischen Schriftstellerin Adrienne Rich hat Tillie Walden ihrem Comic vorangestellt. Weil es ein feministischer Comic ist: Hier handeln fast ausschließlich Frauen, selbst in den Nebenrollen.

Allerdings sind da diese Männer vom Verkehrsamt für Fernstraßen-Verwaltung. Dunkle Gestalten mit tief ins Gesicht gezogenen Hüten, die so autoritär auftreten wie unangenehme Cops und die den Weg der beiden Frauen immer wieder behindern. Hat die Comic-Künstlerin die beiden Männer etwa als eine Art Über-Ich angelegt, das die Triebe der Frauen kontrolliert und ausbremst? Vor allem Bea ringt mit sich um ein Coming-out als Lesbe – und auch Lou hadert nach der Trennung von ihrer Freundin mit ihrer lesbischen Identität.

Und welche Figur in dem Comic könnte das „Es“ verkörpern? Vielleicht die Katze, die Bea findet und die immer wieder Impulse gibt, eine neue Richtung einzuschlagen, ohne dass das rational nachvollziehbar wäre. Zum Beispiel den, nach West in West-Texas zu fahren. Einem Ort, der in keiner Landkarte verzeichnet ist – der aber auf der Marke am Halsband der Katze steht.

West, West-Texas ist die perfekte Mischung aus riesengroß und klein. Das Land, der Himmel, alles hat seinen eigenen Kopf, sein eigenes Herz. Hier draußen ist es genauso einfach, eine Straße zu bauen, wie sich auf dem Rücken zu wälzen.

Neue Form der Coming-of-Age-Erzählung

Sobald die beiden Frauen in die Region von West, West-Texas kommen, wird alles um sie herum zu einer atemberaubenden Seelenlandschaft. Eine Bergspalte öffnet sich wie eine Vagina, und die Sonne hängt mitunter am Himmel, als wäre sie ein praller Kitzler. Auf der Flucht vor den dunklen Männern brechen Brücken über tiefen Schluchten zusammen, an anderer Stelle entstehen plötzlich neue Brücken – ganz so, als würde sich ein Weg auftun, sobald man dazu bereit ist. Das zeichnet Tillie Walden so spektakulär und temporeich, dass es nicht wie erbaulicher Kitsch wirkt, sondern wie ein Action-Comic.

So hat Walden mit „West, West Texas“ eine ganz neue Form der Coming-of-Age-Erzählung entwickelt: ein spannendes Roadmovie, das symbolisch so aufgeladen ist wie ein David-Lynch-Film. Und im Unterschied zu David Lynch geht Tillie Walden sehr liebevoll mit ihren Protagonisten um.

Dieser Text erschien zuerst am 12.08.2019 in: Deutschlandfunk

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „West, West Texas“.

Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.

Seite aus „West, West Texas“ (Reprodukt)