Klopf auf Holz

Lowell, ein Städtchen im US-Bundesstaat Maine, im März 1997. Loretta sitzt an der Kasse des örtlichen Supermarktes. Sie ist alleinstehend und bringt sich und ihre beiden Kinder, Meg und deren Bruder Josh, so halbwegs über die Runden. Als sie wegen Joshs Eskapaden mal wieder beim Schuldirektor vorstellig werden muss, klagt Meg erstmals über einen juckenden Ausschlag am Arm. Der wird stetig größer und beginnt sich rasch über den ganzen Körper auszubreiten. Als dann kurze Zeit später ein kleines Ästchen aus ihrem Rücken zu wachsen beginnt, überschlagen sich die Ereignisse. Nach einem Unfall auf dem Weg ins Krankenhaus wird die Familie von Unbekannten angegriffen. Da erscheint ein Retter in höchster Not, unerwartet und überraschend: Megs und Joshs Großvater Judd schlägt die Angreifer in die Flucht. Jahrelang hatte die Familie keinen Kontakt zu ihm und das Wiedersehen ist nicht gerade herzlich. Umso erstaunlicher, was Judd zu berichten hat, denn der alte resolute Mann weiß über die Krankheit Megs erstaunlich gut Bescheid…

Jeff Lemire (Autor), Phil Hester u.a. (Zeichner): „Family Tree Bd. 1“.
Aus dem amerikanischen Englisch von Katrin Aust. Splitter Verlag, Bielefeld 2021. 96 Seiten. 19,80 Euro

Autor Jeff Lemire lancierte seine Serie im November 2019, inzwischen liegt bei Image Comics in den USA die Reihe in drei Paperbacks komplett vor, von denen das erste nun bei Splitter auf Deutsch erscheint. Ähnlich wie bei „Gideon Falls“ oder auch „Black Hammer“ lässt uns Lemire in einer Kleinstadt teilhaben, wie sich das Leben Einzelner durch eigentlich abstruse Ereignisse radikal ändert. Schnell breitet sich die mysteriöse Krankheit auf Megs Körper aus – Groot und die Ents lassen aus der Ferne schon grüßen, denn Mutter Loretta ist verständlicherweise ratlos. Mit dem Auftauchen Judds als bärtige Ein-Mann-Kavallerie nimmt die Story Fahrt auf und durch die Rückblenden erfahren wir, dass Judd genau weiß, was mit Meg passiert – und welches Schicksal sie erwartet. Auch ganz typisch Lemire: Nur ganz zögerlich werden wir darüber aufgeklärt, denn die Erklärungsversuche Judds werden durch die verständlicherweise aufbrausende Loretta bereits im Keim erstickt. So bleibt der Leser immer am Ball, natürlich auch durch die Cliffhanger nach jedem der vier Kapitel.

Auch bedingt durch die scheinbar allgegenwärtigen Verfolger, die sich die immer „baumigere“ Meg schnappen wollen, erleben wir einen rasanten Fortgang der Geschehnisse, durchzogen von actionreichen Ballereien, wobei durch die Ausflüge in die Vergangenheit einige Details, die sich jedoch auch noch nicht final einordnen lassen, ans Licht kommen. So erweist sich Jeff Lemire einmal mehr als formidabler Erzähler, auch wenn die Story bisher gradliniger verläuft und auf weniger Schauplätze und Personen beschränkt ist als beispielsweise seine Serien „Gideon Falls“ oder „Descender“/„Ascender“. Die Komplexität und das Kantige, das der Story noch fehlt, lässt sich umso mehr im Zeichenstil festmachen. Auch das typisch Lemire: Mit Phil Hester holt er einen Zeichner mit einem markanten, schon beinahe abstrakten Strich an Bord – unterstützt von Eric Gapstur und Ryan Cody –, der der Erzählung seinen ureigenen optischen Stempel aufdrückt. Und zwar von der ersten bis zur letzten Seite. Band 2 ist für den September dieses Jahres geplant.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.

Seite aus „Family Tree“ Bd. 1 (Splitter Verlag)