Seit 2015 bzw. 2017 arbeitet der in Paris lebende Comickünstler Riad Sattouf an zwei Langzeitchroniken, die beide ganz unterschiedliche Protagonisten von der Kindheit bis zum jungen Erwachsenenalter begleiten: In „Der Araber von morgen“ erzählt Sattouf seine eigene Biografie, vom Aufwachsen in Libyen und Syrien unter diktatorischen Verhältnissen und islamischer Strenge, bis die Familie 1991 endgültig nach Frankreich übersiedelt, wo das familiäre Bündnis zerbricht, als der Vater mit seinem entführten jüngsten Sohn nach Syrien zurückreist. In „Esthers Tagebücher“ wiederum visualisiert Sattouf quasi in Echtzeit die Erlebnisse und Gedanken der titelgebenden Esther, Tochter eines Freundes Sattoufs, die wöchentlich als One-Pager im französischen Nachrichtenmagazin L’Obs und jährlich als Sammelausgaben erscheinen. Beide Serien sind mittlerweile beim fünften Band angelangt, und beide Figuren haben darin nun das 14. Lebensjahr erlangt. Die Pubertät wütet also heftig, und eine Engführung der Serien zeigt, dass subtile und manifeste Gewalt der patriarchalischen Welt, in die beide Jahr für Jahr ungeschützter hineinwachsen, sowohl Esther als auch Riad immer heftiger zusetzen. Weil sie inzwischen jenes Alter erreicht haben, in dem sich das Systemische hinter den Gemeinheiten und der Ungerechtigkeit des Alltags spürbar herausschält.

Riad Sattouf: „Der Araber von morgen – Band 5“.
Aus dem Französischen von Andreas Platthaus. Penguin-Verlag, München 2021. 184 Seiten. 24 Euro
Was Esther, in deren Figur sich zugleich das Porträt der ersten Youtube-Generation verdichtet, an Entwicklungsstufen der pubertären Männlichkeits- wie Weiblichkeitstransformation beobachtet und erträgt, ist qualvoll: Mitschüler, die die Mädchen obszön beschimpfen und begrapschen, ein ignorierter Jugendlicher auf dem Pausenhof, der in Tränen ausbricht, wenn man ihn anlächelt, Achtklässlerinnen, die bei Minusgraden bauchfrei schaulaufen, ein feministisches, kämpferisches Mädchen, das auf der Grundschule gemobbt wurde und die SMS aufbewahrt hat, um „dran zu denken, niemals zu verzeihen“ („Hässliche wie dich mus man abvakeln“, „Dreckshure“), und überall, wirklich überall Homophobie bzw. Typen, die die Härtecodes des HipHop verinnerlicht haben.

Riad Sattouf: „Esthers Tagebücher – Band 5“.
Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock. Reprodukt, Berlin 2021. 56 Seiten. 20 Euro
Sattouf liefert zwei ausgeklügelte, vielerlei anschlussfähige soziologische Mikrostudien. Obgleich es hier und dort etwas zu lachen gibt – zu lernen gibt es allemal mehr. Vor allem, dass der Mythos einer unschuldigen Kindheit und Jugend denen gehört, die wegen glücklicher Zufälle nichts zu befürchten hatten. Oder aufseiten der Schläger standen. Dass das Ganze nicht unter der Last des Beobachteten zusammenbricht, verdankt sich Sattoufs luftigem Zeichenstil, der sich an Jean-Jacques Sempés Karikatur-geschulte reduktionistische Bildwelten sozusagen anschmiegt. Auch so ein Chronist, der über die Kindheit keine Lügen verbreiten konnte. Der markante Unterschied: Wo sich Sempé in seinen Arbeiten gelegentlich zu pittoresken Kolorierungen hinreißen ließ, arbeitet Sattouf streng mit vier Farbvariationen. Dem 21. Jahrhundert ist womöglich das Schwelgerische abhanden gekommen.
Sven Jachmann ist Comic.de- und Splitter-Redakteur und Herausgeber des Filmmagazins filmgazette.de. Beiträge u. a. in KONKRET, Tagesspiegel, ND, Taz, TITANIC, Junge Welt, Jungle World, Das Viertel, Testcard sowie für zahlreiche Buch- und Comicpublikationen und DVD-Mediabooks.

Bild aus „Der Araber von morgen – Band 5“ (Penguin Verlag)