Diese Kritik erschien zuerst 2004 auf: Jump Cut Magazin
„American Splendor“ ist ein Film über den Sozialtypus Nerd. Eine Rehabilitation des Nerds, die einem nicht vormacht, Nerds seien angenehme Menschen. Man erlebt sie besser aus der Distanz. „I am depressing“, sagt Harvey Pekar und man glaubt ihm aufs Wort. „I am a Nerd“, sagt Toby Radloff und ein Blick genügt. Man hört es auch mit geschlossenen Augen, denn in Wahrheit sagt er „I am a Niard“ und diese Abweichung fasst zusammen, was den Nerd ausmacht: Er ist unmöglich. Er weiß sich nicht zu benehmen. Er ist seltsam und das auf total uncoole Art. Ja, der Nerd ist das Gegenteil von cool, weil seine Abweichung nichts Heroisches hat. Die psychischen Mechanismen liegen offen zu Tage, und genau darin liegt der Grund, dass seine Sublimationen scheitern müssen, ohne allen Glanz, ja, noch die Selbsterkenntnis des Nerds ist eine traurige Sache, sie weckt Mitleid, im besten Fall. Am Scheitern des Nerds an sich und der Welt gibt es nichts zu bewundern. Der Nerd ist ein hoffnungsloser Fall, noch wenn er bei David Letterman auftaucht oder bei MTV: Missverständnisse, die sich schnell aufklären.
„American Splendor“ ist ein Film über Harvey Pekar und Harvey Pekar ist ein Nerd, das ist keine Frage. Sein Blick auf die Welt und das Dasein und vor allem sich selbst ist schärfer und aufrichtiger, als irgendjemandem guttun könnte. Depressive Menschen, sagen psychologische Studien, zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie sich, anders als die anderen, nicht selbst überschätzen. Nerds wissen über die Welt gut Bescheid, weil sie nicht dazugehören, da kann man genauer hinsehen. Die Existenz des Nerds ist überstrahlt vom Unglück und genau davon erzählen Harvey Pekars Comics. Selbst unter seinesgleichen ist er allein und davon handeln seine Geschichten, die mitten aus seinem Leben gegriffen sind. Harvey Pekar erzählt von sich, seinem Job als Aktenverwalter im Krankenhaus von Cleveland, von seinen Kollegen, die nicht minder seltsam sind als er selbst. Im Gegenteil: Toby Radloff, der 80 Meilen fahren wird, hin, dann wieder zurück, um im Kino den Film „Revenge of the Nerds“ zu sehen, ist eine der bizarrsten Figuren, die man sich nur vorstellen kann. Nerds, das kommt dazu, und das kann man hier sehen, sind stets schon die Karikatur eines Nerds. Was natürlich alles noch schlimmer macht. Recht nonchalant stellen die Regisseure von „American Splendor“ die echten Nerds gegen ihre fiktionalen Nachempfindungen und es wird deutlich, dass im Spielfilm nichts übertrieben wird, im Gegenteil. Fiktionalisierung ist, beinahe unvermeidlich, schon Milderung, das zeigt der Vergleich, den „American Splendor“ in so schöner, weil ganz beiläufiger Weise möglich macht, das zeigen Dokumentationen wie „Crumb“ (Robert Crumb tritt auch hier auf, er ist der erste Zeichner, der Pekars Geschichten umsetzt) oder „Cinemania“ – und das zeigt, ex negativo, ein Spielfilm wie „Ghost World“, der der Nerd-Existenz eine Art Glamour verleiht, die sie nicht hat. Nicht haben kann, weil der Nerd niemals ein Held sein kann. Und er kann niemals ein Held sein, weil er die Wahrheit über uns alle ist, eine Wahrheit, die wir schlechterdings nicht ertragen können. Der Nerd hält uns die Durchsichtigkeit unserer verzweifelten Versuche vor Augen, klüger, schöner, liebenswerter, edler zu scheinen, als wir sind, indem er in sichtbarer Weise so medioker und fanatisch und verzweifelt und klein ist, wie wir es selber sind.Man kann den Nerd nicht lieben, weil man in seinem Angesicht vor dem Nerd in sich, dem ganz und gar nicht liebenswerten Autisten, den keiner kennt außer dir selbst, erschrickt. Du verspottest den Nerd und meinst dich selbst. Umso bewundernswerter sind Filme wie „American Splendor“ oder „Crumb“ oder, mit Abstrichen, „Cinemania“, die es dir möglich machen, den Nerd in dir zu akzeptieren. Es liegt nicht weniger als die Utopie des Zwischenmenschlichen darin zu sehen, wie die Nerds Harvey Pekar und Toby Radloff und Joyce Brabner einander haben wie die Stachelschweine, die sich gegenseitig wärmen. „American Splendor“ macht es möglich, mehr als Mitleid zu empfinden für die Nerds, die du nicht lieben kannst. Eine Nähe, eine Wärme, eine Zärtlichkeit, die etwas beinahe Utopisches hat, weil sie auf alle Sentimentalitäten und Romantisierungen entschlossen verzichtet, verzichten muss.
American Splendor
USA 2003
Regie: Shari Springer Berman, Robert Pulcini – Buch: Shari Springer Berman, Robert Pulcini – Kamera: Terry Stacey – Musik: Mark Suozzo – Schnitt: Robert Pulcini – Darsteller: Paul Giamatti, Harvey Pekar, Hope Davis, Judah Friedlander, Chris Ambrose, Joey Krajcar – Länge: 101 Minuten – Kinostart: 28.10.2004 – DVD-Start: 29.06.2005 – Verleih: Meteor Film – Verleih (DVD): Sunfilm
Ekkehard Knörer, geboren 1971, in Würzburg, Austin (Texas) und Frankfurt (Oder) Deutsch, Englisch, Philosophie, Kulturwissenschaften studiert. Promoviert zur Theorie von Ingenium und Witz von Gracián bis Jean Paul. Von 1998 bis 2008 die Filmkritik-Website Jump Cut betrieben. Texte zu Film, Theater, Literatur für Perlentaucher, taz, Freitag, diverse andere Medien. Seit 2012 Redakteur, seit 2017 auch Mitherausgeber des Merkur. Ebenfalls Mitherausgeber des Filmmagazins Cargo.