Klassenkampf und Paragone

Bild aus "Deadly Class Bd. 2" (Cross Cult)

„Deadly Class“ leuchtet die dunklen Winkel widerstreitender Jugendkulturen aus – in einer Zeit, als es noch kein Cybermobbing oder coronabedingtes Homeschooling gab. Rick Remenders und Wes Craigs erfolgreiche Comicserie „Deadly Class“ präsentiert schulisches 1980er-Jahre-Grauen jenseits von Schulhofhänseleien und Völkerball-Psychoterror und ist derzeit auf Netflix zu sehen.

Schulen sind ein beliebter Schauplatz für Comics, sei es bei den „X-Men“ oder in der „Umbrella Academy“. Kein Wunder: Das jugendliche Publikum kennt das Schulhofsetting aus der tagtäglichen Leidensbiografie, während erwachsene Leserinnen und Leser ihr Schultrauma noch einmal lektürebegleitend durchexerzieren können. Und irgendwie passt es in unsere ausbildungsfreudige Zeit, dass selbst schulfremde Freizeitaktivitäten wie Zaubern („Harry Potter“) oder Töten („Deadly Class“) in einer ordentlichen Bildungseinrichtung gelernt werden müssen.

Rick Remender (Autor), Wes Craig (Zeichner): „Deadly Class Bd. 1-7“.
Cross Cult, Ludwigsburg 2019-2021. 176/176/176/136/128/136/136 Seiten. Je 16,80 Euro

Klassenkampf und Selbstfindung

Der Klassenraum ist auch ein Ort, an dem Kinder und Jugendliche mit sehr unterschiedlichen Biografien nebeneinandergesetzt werden. Bestes Trainingsgelände also, um sich abzugrenzen und die eigene Individualität zu entdecken, entweder in sehr eigenwilligen Superkräften oder – etwas konventioneller – durch Musik und Weltanschauung.

Kings Dominion ist ein inmitten von San Francisco verborgenes Internat, eine schummrige Parallelwelt in den Augen der unbescholtenen Bürger der Stadt und eine Zuflucht für die Zöglinge der kriminellen Halbwelt. Hier werden Kinder zu Attentätern ausgebildet, mit dem ursprünglichen Ziel, den Machtlosen eine Stimme zu geben, wie Master Lin, der Schuldirektor, das Profil der Bildungseinrichtung erläutert.

Ein eigenwilliger Stundenplan: Attentäter-Psychologie – Enthauptungen – Gift – Zweikampf – Tödliche Künste. Nix Montessori. Der obdachlose Marcus Arguello wird in die Assassinenschule aufgenommen, vor allem aufgrund seiner besonderen Biografie: Nach dem Unfalltod seiner Eltern ist er in einem grausamen Waisenhaus groß geworden. Rigide Regeln bestimmen den freudlosen Alltag, gewaltverliebte Aufseher quälen die Heranwachsenden, eine schlimme Direktorin und ein perverser Zimmermitbewohner machen Marcus das Leben vollends zur Hölle.

Da helfen auch die schmucksamen Christuskreuze an der Wand nicht viel. Er entkommt dem Waisenhaus, das kurz darauf in Flammen aufgeht, und alle Kinder sterben. In der Schule der tödlichen Künste (sozusagen das phantastische Pendant zu dem Waisenhaus) trifft er auf andere Jugendliche, die auf der Suche nach ihrer Identität um Gruppenzugehörigkeit buhlen oder sich in Abgrenzung bemühen. Kinder der 1980er kennen das: die Skater, die Gothics, die Nerds, die Punks. In „Deadly Class“ grenzen die Gruppen sich vor allem aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit voneinander ab: der weiß-rassistische Dixie-Mob, die Latinos, die Asiaten, die Afro-Amerikaner. Und die Punks. Aber Marcus weiß: „Just doesn’t matter where they’re from, kids are all the same — vicious.“

Seite aus „Deadly Class“ (Cross Cult)

Jeder ist um Abgrenzung bemüht, sei es durch Musik oder durch Weltanschauung – meistens durch beides. Während die Punks ihr Außenseitertum so ostentativ zur Schau stellen, dass es zur reinen Pose verkommt, haben sich auch alle anderen am Rande der Gesellschaft versammelt. Wie zu erwarten, wird es dort schließlich zu eng, und so entstehen typische Chabo-Babo-Konflikte um Freunde, Partner und soziales Kapital: Reputation ist alles.

Die Serie vereint Comic-of-Age-Themen mit typischen Superheldenmotiven. Die Figuren sind keine Superhelden, teilen mit diesen aber das frühe Kindheitstrauma und die soziale Bindungslosigkeit. Weder tragen sie (echte) Masken noch kämpfen sie für das Gute, nicht einmal für gute Noten. Eigentlich machen sie nur entweder, was man ihnen sagt – oder das genaue Gegenteil davon. Vor allem versuchen sie alles, um das Bild, das andere von ihnen haben, zu bewahren. Indem Remender und Craig die Jugendlichen in ihrem Bemühen zeigen, eine Fassade von sich aufzubauen, präsentieren sie eine interessante Variante superheldischer Doppelidentität als Coming-of-Age-Problem.

Um Marcus herum bildet sich ein Freundeskreis, der sich aus Vertretern all der verschiedenen Gruppen zusammensetzt. Und kaum ist diese Versuchsanordnung arrangiert, beginnt die Action so turbulent wie unterhaltsam, und bisweilen entlarven Remender und Craig die oberflächliche Selbstbezüglichkeit der Figuren. So etwa, als Marcus unter einem lästigen (vermeintlichen) Herpes leidet und sich in einen Monolog hineinfantasiert: Wenn auch die attraktive Frau vor ihm Herpes hätte. Eine Herpes-Ehe. Herpes-Kinder. Herpes-Glück. Und während wir Leserinnen und Leser amüsiert mitfabulieren, händigt der Arzt dieser Frau ihre HIV-Medikamente aus, und das Lachen bleibt Marcus und uns im Halse stecken. Der Comic erscheint seit Januar 2014 bei Image Comics, in Deutschland wird die Serie bei Cross Cult veröffentlicht, wo auch Remenders „Seven to Eternity“ und seit neuestem „Fear Agent“ ihr verlegerisches Zuhause haben, während „Low“ und „Black Science“ bei Splitter zu finden sind. Wes Craigs Comics („The Grave Diggers Union“) haben es noch nicht nach Deutschland geschafft.

Paragone: Comic und Adaption

2016 hatte sich Sony die Verfilmungsrechte an „Deadly Class“ gesichert, und seit Dezember 2018 lief die Serie bei SYFY. Im November 2020 zeigte Netflix die erste Staffel. Als „Paragone“ bezeichnet man in der Ästhetik den Wettstreit der Künste: In der Renaissance etwa stritten Maler und Bildhauer, wessen Kunst überlegen sei. „Deadly Class“ bietet dem Wettstreit zwischen den medialen Möglichkeiten von Comic und Film eine Arena. Mal wieder.

© Syfy

Während die Kinos nur durch eine globale Pandemie von weiteren Superheldenverfilmungen aus der Marvel-Hölle bewahrt werden konnten, grassieren bei den Streaminganbietern die seriellen Comic-Adaptionen: „The Old Guard“, „Daredevil“, „The Punisher“, „Watchmen“ und so weiter… Eine fast schon ermüdende Liste, und viele weitere sind angekündigt, so wird etwa Jeff Lemires „Sweet Tooth“ demnächst folgen.

„Deadly Class“ erlaubt sich zahlreiche erzählerische Freiheiten, wie der Comic- und Drehbuchautor in diversen Interviews ausführt: Die Welt von „Deadly Class“ könne er im Medium des Films besser entfalten. Das kommt dem Talent mancher Schauspieler sehr entgegen. So hat der Direktor Lin, gespielt von Benedict Wong, in der Serie eine viel interessantere und widerspruchsfreudigere Rolle als noch in der Vorlage. Wesentlich´stärker in den Fokus der Serie gerät auch der Giftmischer-Lehrer Jurgen Denke, der von Punkrock-Legende Henry Rollins gespielt wird – keineswegs sein erster Film („Heat“ 1995, „Lost Highway“ 1997).

Während Marcus im Comic einen kaum zu rechtfertigenden Mord an einem Obdachlosen begeht, wird in der TV-Serie daraus eine gerechte Tat. Hier wie auch bei der Ermordung eines Polizisten durch Saya (nur im Comic) entschärft die Serie die Handlung erheblich. Man könnte auch den Vorwurf anbringen, die Serie sei weichgespülter. An anderer Stelle aber kann sie die Stärke des Mediums ausspielen, bei der Musik.

Der Comic ist durchsetzt von der Musik der 1980er, die von den Jugendlichen ganz bewusst als Distinktionsinstrument verwendet wird. Der Comic kann die Musik nicht direkt umsetzen, sondern muss den Umweg über die Darstellung der Bandnamen auf Postern oder T-Shirts, über Konzertbesuche, über herrlich absurde Musikfachgespräche der Figuren gehen. Die Serie bietet hingegen einen wuchtigen Soundtrack, dessen Buntheit die musikalische Welt der 1980er abbildet: Mit Depeche Mode, The Smiths, The Cure und New Order erstehen die 1980er vor den Ohren der Zuschauerinnen und Zuschauern wieder auf – ein gewisses Faible für Punkrock kann Remender dabei nicht verbergen.

© Syfy

Schwächer hingegen geraten die Mono- und Dialoge in der Serie. So philosophiert Marcus: „Glück ist nur die Abwesenheit von Schmerz.“ Mit dieser trockenen Anknüpfung an die Glücksphilosophie Epikurs sind die rhetorischen Tiefen der filmischen Adaption beinahe ausgelotet. Um wie viel feinsinniger hingegen gerät die Rhetorik des Comics, wenn Marcus auf der Flucht zwischen seiner Verfolgungsangst und seinem Einsamkeitsgefühl oszilliert: „Feel like I’m being watched. But nobody sees me.“

Und zuletzt zeigt der Vergleich von Comic und Serie, welche Bedeutung der Visualisierung von Wes Craig zukommt. Sein Gespür für innovative Seitengestaltungen nimmt auch nach über vierzig Heften nicht ab. Die origin story von Marcus erzählt Craig über eine Doppelseite hinweg als dessen Traum. Unter der Oberfläche seines Bewusstseins sehen wir ihn mitsamt seiner Eltern auf einem Schiff unter der Golden Gate Bridge hindurchfahren, als ein Selbstmörder sich hinunterstürzt und bei dem Aufprall seine Eltern tötet. Die cartoonhaften Gesichter und die Farbgebung signalisieren den Traumzustand. Und der rote Ballon deutet mit seiner Farbe schon das Blutbad an, das Marcus sein ganzes Leben lang begleiten wird. Diesen Paragone entscheidet der Comic für sich.

Nachdem im Juni 2019 verkündet wurde, die Serie würde keine zweite Staffel mehr erleben, schöpften die Fans neue Hoffnung, als die Serie bei Netflix anlief. Bestand doch die Möglichkeit, dass ein dortiger Erfolg eine zweite Staffel doch noch ermögliche. Aber die Zeichen stehen nicht gut. Wer neugierig auf die weitere Handlung von „Deadly Class“ ist, muss zu den Comics greifen, denn nach dem Serienende (nach #11) wird es noch viel besser. Im Februar 2021 ist der siebte Band der spektakulären Reihe bei Cross Cult erschienen. Und das Artwork von Wes Craig ist es allemal wert, die ersten sechs Bände gleich dazuzukaufen.

Dieser Text erschien zuerst in der Comixene #139.

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.