Man muss sich diesem Buch nähern wie ein Spaziergänger, nämlich ohne ein konkretes Ziel – mit Goethe gesprochen: „Ich ging im Walde so für mich hin, und nichts zu suchen, das war mein Sinn.“ Spaziergänge und Comics haben auf den ersten Blick wenig gemeinsam, wenngleich beide Freizeitaktivitäten in der Regel ohne Schweiß, Blut und Tränen vonstattengehen und mehr oder weniger nutzlos sind – man wird nicht klüger, nicht schneller, nicht reicher, nicht jünger.
„Senso“ hat keinen aufsehenerregenden Plot, keine Botschaft, liefert keine Interpretation von Gesellschaft, keine Analyse unserer ökologischen Grundlagen, ist nicht spannend, nicht übermäßig lustig, nicht tiefgründig und nicht schockierend. Auch formal bietet der Comic keine Experimente, bricht keine Tabus, setzt keine Maßstäbe. Dennoch habe ich über Monate hinweg immer wieder an den im Mai bei Reprodukt (zuerst im Oktober 2019 bei Delcourt) erschienenen Comic zurückdenken müssen. Man muss „Senso“ mit der von Walter Benjamin in dessen Passagen-Werk beschriebenen Sensibilität begegnen.Schon eingangs richtet Autor und Zeichner Alfred (eigentlich Lionel Papagall, *1976) sich an die Sinne, die man mit einem Comic eher schlecht erreichen kann. Wir hören durch den kleinstädtischen Bahnhoflautsprecher eine Stimme von der enormen Hitze berichten. Die Schweißperlen machen die Hitze anschaulich, aber insbesondere die Farben, der blaue Himmel, die glühendroten Menschenmengen machen die Hitze geradezu greifbar.
Germanos Zug ist leider mit erheblicher Verspätung in der italienischen Kleinstadt angekommen und hat seine Mitfahrgelegenheit zum Hotel verpasst. Nun macht er sich selbst auf den Weg und flaniert durch illustre Landschaften, beobachtet beeindruckende Vogelschwarmformationen und nutzt antikisierende Skulpturen als Rastplatz, bis er schließlich zu seinem Hotel gelangt. Immer wieder: Fauna, Flora und Kunst. In dem prachtvollen Hotel angekommen, muss Germano feststellen, dass er keinen Schlafplatz für die Nacht findet, weil eine Hochzeitsgesellschaft sämtliche Zimmer belegt hat. So werden die ausgedehnten Parkanlagen und die luxuriöse Hotellobby seine places-to-be für diese Nacht. Und nur um diese eine Nacht geht es in „Senso“.
Germano stolpert von einer zufälligen Begegnung zur nächsten und trifft dabei auf Menschen, deren Absichten und Sorgen so verschlungen sind wie die Pfade des fantastischen Parks, der immer mehr von einem Schauplatz zu einem Akteur wird. Die Figuren hingegen posieren bisweilen wie die Statuen, die allerorts zu finden sind. Kunst und Natur verschmelzen miteinander, und wenn Germano mit Elena, mit der er des nachts den mysteriösen Park erkundet hat, am kommenden Morgen eine Kunstausstellung besucht, klingt das konsequent.Germano plaudert mit dem Empfangsherrn über die Liebe, am Pissoir über Arbeit und Pflicht, mit Elena über die Kunst, und manches Mal darf man daran zweifeln, ob seine Gesprächspartner im Recht und ob ihre Absichten redlich sind. Das Gute und Wahre stellt Alfred zur Diskussion, nur das Zwecklos-Schöne hat in dieser aquarellierten Welt dauerhaft Bestand. Als Leser*in spazieren wir durch die Seiten wie durch eine mediterrane Landschaft und staunen über alles, was unserem Blick wie zufällig begegnet.
Viele der Begegnungen sind nur vage motiviert, aber in „Senso“ geht es nicht um eine durchorchestrierte Handlung, nicht um Symbole und noch weniger um eine Bewertung dessen, was die Figuren sagen oder tun. Germano ist weder heroisch noch vorbildhaft, er ist so blass und fehlerhaft, wie Menschen dies nun einmal sind. „Senso“ feiert die Künstlichkeit.
Wenn Alfred im Laufe seines Spaziergangs beim Anblick der Natur resümiert: „Jetzt ist es wirklich vorbei mit dem Stress“ – dann trifft er ganz gut den Effekt von „Senso“. Und dass unser deutsches Wort „Spazieren“ aus dem Italienischen abgeleitet ist, passt natürlich zum Setting, auch wenn es nur ein Zufall ist wie alles andere in diesem schönen Buch.
Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.