Wir steigen in die Geschichte ein, als es schon längst zu spät ist: Ein Mann ist gestorben und hinterlässt einen traurigen Jungen, der sein Sohn oder, weitaus wahrscheinlicher, sein Enkel sein könnte. Während die Trauergäste sprachlos und mit gesenktem Blick beieinanderstehen oder ihre Gefühle in aus der Zeit gefallene Stofftaschentücher schnäuzen, zieht es den Jungen nach draußen. In die Einsamkeit. Genauer: In den Wald.
„Geh nie dorthin, wo die Bäume sind“, sagt Axel Schefflers Grüffelo zu seinem Grüffelokind, und auch der Schweizer Illustrator Thomas Ott platziert das Unheimliche wohlverborgen zwischen Bäumen und Büschen. Wir begleiten den unglücklichen Jungen in diesem stummen Comic auf seinem Weg in den Wald, und nur zwei seitenfüllende Panels später treten aus dem Dickicht leuchtende Augenpaare hervor, fast so feurig wie die des Grüffelo. In einen der Baumstämme wurden die Initialen H + G geritzt – Heiri und Gundula sind die Kosenamen des Autors und seiner Freundin, so Thomas Ott. Aber es ist fast abwegig, hier nicht an ein berühmtes Märchen zu denken.
„Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald“, weiß das Volkslied, und ob unser anonymer Waldgänger zielstrebig oder heillos durch den Wald spaziert, lässt sich nur mutmaßen. Auch wenn er keine Grimm’sche Hexe aufspürt, wird die Welt fantastischer, je tiefer er sich in sie vorantastet. Ein haariges Ungetüm jagt ihm einen Schrecken ein, eine entblößt-schwebende Frau mit verhangenem Gesicht ruft Erstaunen in ihm hervor, und von der an einem Ast baumelnden Leiche, deren Schuhe man am oberen Panelrand hineinragen sieht, ist er angesichts der entrückten Welt nur noch mäßig beeindruckt.Nach dem Durchleben kindlicher Ängste und dem Entdecken der Sexualität hat diese Waldwelt ihren Blair-Witch-Project-Horror längst eingebüßt, und der Junge findet schließlich auf einer Lichtung seine kürzlich verstorbene Vaterfigur vor, schließt ihn in seine Arme, führt ein letztes Gespräch und verabschiedet sich. Der Rückweg, wir kennen das aus „Hänsel und Gretel“, verläuft nun ganz ohne Hindernisse.
Man kann die Comics von Thomas Ott leicht im Comic-Fachhandel übersehen: Sie protzen nicht mit Farbe, handeln nicht von berühmten Persönlichkeiten, sind weder jubiläumstauglich noch von beeindruckendem Umfang und sie bieten sich nicht an, zu Geburtstagen, Weihnachtsfesten oder Hochzeiten verschenkt zu werden. Das schmale Werk des Schweizer Autors und Zeichners hat es aber dennoch verdient, viel Beachtung zu bekommen.
Bislang sind Otts meist stumme Schwarz-Weiß-Comics überwiegend bei der Edition Moderne erschienen („Tales of Error“, „Greetings from Hellville“, „Dead End“, „Cinema Panopticum“), aber dieser Comic, so Thomas Ott, „passte offenbar nicht ins neue Programm. Im Frühjahr 2021 kontaktierte dann der Carlsen Verlag Les Editions Martin de Halleux, da sie hörten, dass die deutschen Rechte noch zu haben waren. So ist diese Zusammenarbeit entstanden.“
„Der Wald“ ist in Frankreich als Auftaktband der Serie „25 images“ erschienen. Dieses Projekt, das bislang nicht über zwei Comics hinausgekommen ist (Joe Pinelli, „Marguerite“), besteht darin, 25-seitige Bildgeschichten mit je einem Panel pro Seite, zudem in Schwarzweiß zu erzählen. Als Pate dieser Serie muss der belgische Holzschnittkünstler Frans Masereel herhalten, dessen Bücher im selben Verlag, Halleux, erscheinen.„Der Wald“ fügt sich recht nahtlos in das homogene Werk des Schweizers Thomas Ott ein. Nicht nur stilistisch, sondern auch hinsichtlich des Grusel-Effekts knüpft Ott an „Cinema Panopticum“, „Dead End“ oder „The Number“ an, wenngleich der Horror seiner früheren Comics hier stark zurückgenommen und meist auf ein fantastisches Element reduziert ist.
In seinen kurzen, an die Tradition der EC Comics angelehnten Geschichten früherer Veröffentlichungen ist es Ott oft um die Wiederherstellung von Gerechtigkeit nach dem Motto „Wie-du-mir-so-ich-dir“ gegangen, wie in „10“, einer kurzen Story in „Greetings From Hellville“ (1995) oder „A Wrinkled Tragedy“ aus „Tales of Error“ (1989). In „The Millionairs“ (aus „Dead End“, 2000) stirbt ein Mann bei einem Autounfall und hinterlässt einen Koffer voller Bargeld. Die Finder werden glücklich, aber nicht besonders alt, und mit dem durch viele Hände reisenden Koffer gehen Habgier, Gewalt und Tod einher. Die Geschichte endet mit einer Frau, die wiederum bei einem Autounfall stirbt – eine für viele Geschichten Otts typische Kreisstruktur, die gern mit Ebenensprüngen verknüpft ist. Ganz anders als in dem viel stilleren „Wald“, in dem Ott auf Schock-Effekte à la Blair Witch Project nicht vollständig verzichtet, sie aber doch stark zurücknimmt.
Was den Stil angeht, ist die Schabkartontechnik zu einem Markenzeichen Thomas Otts geworden. Dabei arbeitet der Künstler mit einem Messer die Zeichnung aus einer schwarzen Oberfläche heraus, sodass die Bilder sehr düster wirken: gekratztes Weiß auf vollem Schwarz. Ott selbst nannte dies einmal: „It’s like being in a black room and slowly putting the light on.“ Die dunklen Zeichnungen, wesentlich feiner als in seinen früheren Veröffentlichungen, sind technisch weit entfernt von Masereels Holzschnitten, atmosphärisch aber nicht unähnlich. Thomas Otts stummer Schwarz-Weiß-Comic ist eine sehr stille Geschichte über einen schmerzlichen Verlust und einen tröstlichen Abschied.
Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.