In „Zwang“ erzählt die Schweizer Comiczeichnerin Simone F. Baumann kunstvoll und mit viel schwarzem Humor vom Überleben in einer deprimierenden Welt.
Schwere Geburt: Das Erscheinen ihres Debüts „Zwang“ kündete die Autorin Simone F. Baumann auf ihrem Instagram-Account als Zangengeburt an. Das ist wenig verwunderlich, denn mit seinen 344 Seiten ist der Band schon physisch ein schwerer Brocken, erst recht für einen Erstling. Seit etwa sechs Jahren bringt die 1997 geborene Schweizerin ihre selbst verlegte Heftserie „2067“ heraus, in dem die junge, sensible Protagonistin konsequent düster und mit viel schwarzem Humor durch ihr Leben stolpert. Nun erscheint eine Sammlung der kurzen Episoden bei Edition Moderne.
Schlägt man den Band, der komplett in Schwarzweiß gehalten ist, auf, steht möglicherweise erst einmal alles auf dem Kopf. Die Umschlaggestaltung treibt ein kleines Verwirrspiel: Wo ist vorne, wo hinten, wo oben, wo unten? Es gibt vier verschiedene Cover für „Zwang“ – um herauszufinden, wo die Vorderseite ist, muss schon hineinsehen – und ihn gegebenenfalls richtig herum drehen.
Auf allen Covern ist in fünf schwarz glänzenden Lettern der Titel über die ganze Seite des Bandes angeordnet. Folgt man den Buchstaben über das Blatt, ergeben sie zusammen wieder ein „Z“ – wie „Zwang“ oder wie der letzte Buchstabe des Alphabets. Die Lust am Spiel mit Deutungen und Bedeutungen führt Baumann auch auf der inhaltlichen Ebene weiter. Eines der Cover zeigt die Protagonistin als dunkelhaarige Alice, in Jeans, Boots und Pulli, wie sie kopfüber in ein Loch fällt. Von oben schaut das weiße Kaninchen auf sie herab: Reingelegt. Eine interessante Perspektive auch für die Leser*innen: Sie befinden sich bereits unten, im Loch.Auf einem anderen Cover geben sich Protagonistin und ihr Spiegelbild – oder ihr Alter Ego – den solidarischen Handschlag, die eine mit offenen, die andere mit geschlossenen Augen. Dahinter zerschneidet eine Schere die Szene, Hände drohen das Bild der Einigkeit zu zerreißen. Bilder der Gewalt, die nur auf den ersten Blick allein die Zeichnerin ihrer Protagonistin antut. Zwang ist Gewalt – ob er durch andere ausgeübt wird oder von innen kommt, zum Beispiel als starkes Bedürfnis, etwas zu Papier zu bringen.
Als Zwang stellt Baumann den Druck durch die verständnislosen Eltern dar, aber auch Geschäfte und Werbeplakate mit ihren bunten Heile-Welt-Versprechungen und Pseudo-Angeboten. Mitten im menschlichen Verfall, der der Protagonistin auf der Straße begegnet, wirken sie lächerlich und höhnisch.
Zürich, die Heimatstadt von Simone F. Baumann, gilt heute als die teuerste Stadt der Welt – Armut und das Leben vieler am Randes des Existenzminimums sind kaum wahrnehmbar. Doch laut Caritas Zürich sind 100.000 Menschen im Kanton von Armut betroffen, aufgrund der Corona-Pandemie geht man von steigenden Zahlen aus. Parallel existiert somit auch diese weniger glamouröse Realität der Abgehängten, die auch zur Stadt gehört und ihrem sauberen Image einen Zerrspiegel vorhält. Die von Depressionen gebeutelte Antiheldin wandelt derart tragisch dort hindurch, dass man es ihr schon als heldenhaft anrechnen kann, dass sie morgens überhaupt das Bett verlässt und die gnadenlose Tristesse auf den Straßen erträgt. Ein bisschen lassen diese Szenen an das Zürich aus den 80er und frühen 90er Jahren denken, in dessen heute blitzsauberen Parks und Straßen einst ein schweres Drogenproblem herrschte. Da war die Autorin noch gar nicht geboren.
Geburt und Tod sind treibende Themen bei Simone F. Baumann. So inszeniert sie in den Episoden „Das Ende“ und „Die Geburt“ die Geburt der Protagonistin – beziehungsweise ihre Rückkehr in den Mutterleib. Geburt und Tod sind zwei Seiten der Medaille des Lebens, immer wieder scheint diese sich in „Zwang“ zu drehen und den Leser mit ihren Hochglanz-Seiten zu blenden. Die erste Episode des Bandes handelt vom Tod. Sie führt die Protagonistin in sarkastischer Fröhlichkeit zum Krematorium. Baumann selbst sagte in einem Interview mit der Netzzeitschrift „Evolver“, dass der Titel ihres Fanzines „2067“ sich auf ihr eigenes Todesjahr beziehe.Simone F. Baumann zeigt Bezüge zu den Underground Comix der 70er und den Alternative Comics und Fanzines aus den 80er und 90er Jahren. Man fühlt sich an die absurden Angstwelten von Mark Beyer („Agony“) erinnert. Auch an Debbie Drechslers „Konstellationen“ und manche Fratze bei Julie Doucet. Die Figuren mit den zu großen Köpfen und den zu kleinen Händen wirken kindlich, flach und verformt – und geben damit gut den Blick der Protagonistin auf ihr Umfeld wieder. Die schwarzen Schraffuren für sich haben schon etwas Zwanghaftes, wenn man sich vorstellt, wie Baumann in aufwendiger Kleinarbeit die als krank wahrgenommene Umwelt in düsteren Szenarien ad absurdum führt.
Die Endzeitstimmung in „Zwang“ war auch in Werken der Wiener Moderne zu finden, etwa in den Lithografien von Oskar Kokoschka. Im Schatten des Ersten Weltkriegs war die Atmosphäre des Untergangs allgegenwärtig. Sehr deutlich brachte sie der Schriftsteller, Publizist und Satiriker Karl Kraus zum Ausdruck. In seiner „Tragödie in 5 Akten mit Vorspiel und Epilog“ schreibt er: „Woran aber geht mein tragischer Held zugrunde? War die Ordnung der Welt stärker als seine Persönlichkeit? Nein, die Ordnung der Natur war stärker als die Ordnung der Welt. Er zerbricht an der Lüge. Er vergeht an einem Zustand, der als Rausch und Zwang zugleich auf ihn gewirkt hat.“
Doch wo zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Ende nah zu sein schien, schafft es die Protagonistin etwa 100 Jahre später – ausgerechnet als eine Pandemie bei manchen Menschen eine Art Endzeitstimmung auslöst -, für die negative innere Stimme, die ihr das Leben schwer machen will, eine andere Lösung zu finden.
Diese Kritik erschien zuerst am 15.04.2021 in: Der Tagesspiegel
Rilana Kubassa, geb. 1980, ist Literatur- und Medienwissenschaftlerin und lebt als Journalistin, Autorin und freie Lektorin in Berlin. Ihre Texte über Comics erscheinen auch im Tagesspiegel und bei Closure.