Es ist nicht der Auftrag, Gewinn zu machen

Das Satire-Magazin TITANIC ist so pleite wie noch nie. Warum es wichtig ist, die kollektive Freiheit des Blattes zu retten.

Als ich ins Gymnasium ging, hatte ich einen langen Schulweg. Durch diverse Umzüge war ich gezwungen, mit dem Zug von Dorf in die Stadt zu fahren, viel zu früh kam ich an, um schon andere zu treffen. Also verbrachte ich viel Zeit im Bahnhofskiosk, schaute über die Titel der vielen, vielen Magazine, stöberte in diesen vielen Welten, die nur durch das thematisch fixierte, kuratierte und in Papier gepresste entstehen konnten. Ich vermute, Menschen, die nur mit dem Dauerbeschuss der Netzmedien, der permanenten Empfehlung und Bewertung und Reizanbiederung groß geworden sind, ahnen nicht, was es für ein Dorfkind bedeutete, alles von Stricken bis Waffennarrentum, von allen politischen Richtungen bis internationaler Popmagazine so zu durchstöbern. Es war das unendlich viel langsamere Internet (was Gutes wie Schlechtes beinhaltet). Ein riesiges Angebot, Neues zu entdecken. Bei dem man aber gut auswählen musste. Denn der Einstieg in jede dieser Welten war teuer. Erst recht aus der Sicht eines Menschen, der nur Taschengeld zur Verfügung hatte.

Das Magazin, das mich schon auf den ersten Blick verstörte, aber auch am meisten anzog, hatte solche Titel wie „Helmut Kohl schon wieder 10 Gramm leichter: Ist es Aids?“ Ich fragte mich, wie eine solche Unverschämtheit möglich war. Ich traute mich lange nicht, eines dieser Hefte zu kaufen. Als ich es dann doch einmal tat, verstand ich kaum etwas. Alles war so schwer einzuordnen. Was meinen die ernst, was ist ein Witz? Und wenn es einer ist, was bedeutet er? Vieles war so wütend, vieles klug, einiges dumm, anderes albern, manches irgendwie zartfühlend. Es passte nicht zusammen, aber eigentlich dann wieder sehr gut. Es war eine Welt, die alle anderen Welten nebenan im Bahnhofskiosk auch kannte oder zumindest kennenlernen wollte. Um dann Spaß mit ihnen zu haben. Alles war möglich.

Es dauerte eine Weile, bis ich TITANIC verstand. Aber nie ganz. Um ehrlich zu sein: Noch nicht einmal später, als ich Teil der Redaktion war, verstand ich dieses Magazin komplett. Noch als Chefredakteur erschien es mir magisch, dass da jeden Monat am Ende ein Heft da war. Obwohl ich doch dafür verantwortlich war. Jeden Monat eine neue Welt, geschaffen von mehr als hundert Leuten. Sehr unterschiedlichen Leuten, die sehr unterschiedlich auf die Welt blicken, vereint nur in dem Wunsch, ein bisschen was der anderen Welten so zu verstehen, dass ein wenig Erkenntnis abfällt oder noch besser: Komik.

TITANIC hat mir jahrzehntelang jeden Monat mindestens zwei oder drei laute Lacher beschert. Etwas Sensationelles für totes Papier. Nichts anderes nicht Persönliches vermag das so konsequent.

TITANIC war immer sperrig, durch Anspielungsreichtum, durch Dreistigkeit, durch die Verweigerung des Glatten und allzu Eingängigen, durch Überheblichkeit oder durch unverschämt Problematisches. War man aber mal wirklich drin in dieser Welt, wusste man: Das, was von außen beklagt, bemängelt, oft gehasst, aber trotzdem auch irgendwie erwartet wurde, ist nur ein kleiner Teil dessen, was TITANIC immer war und ist. Der niedere Instinkt, der da manchmal durchbricht, gehört zur imitierten Hochkultur, wie das klar Politische zur Verweigerung alles Politischen. Ich habe nicht nur zwei- oder dreimal gelacht, sondern wurde auf Pfade gestoßen, die ich allein nie betreten hätte.

TITANIC ist Freiheit, die kollektiv hergestellt wird. Ein Mensch, mit dem ich nun zusammenarbeite, sagte erst kürzlich voller Freude, wie erhebend es ist, in einer großen Gruppe einen Text zu verfassen, gemeinsam ein Ziel zu verfolgen. Ich kann sagen: Nie war diese Freude so anhaltend und umfassend für mich wie bei TITANIC. Auch in allem, das scheiterte. Weil das auch zur Freiheit gehört: scheitern zu können, gnadenlos danebenzugreifen, ohne dass es eine Konsequenz für das Selbstverständnis des Gesamten bedeutete. Das gibt es nicht oft, erst recht nicht in Arbeitswelten. Deswegen ist TITANIC auch immer arrogant gewesen, endgültig in seinem Anspruch. Wir müssen uns nicht verkaufen, denn wir verkaufen genug Hefte, um einfach zu existieren. Wir müssen uns nicht anbiedern, höchstens vor uns selbst schämen und vor allem weitersuchen nach Witz, Erkenntnis, Trost und reinen Quatsch.

Nun droht TITANIC diese Freiheit zu verlieren. Weil Papierpreise steigen. Weil kuratierter, zeitverzögerter Spaß jungen Menschen nicht einleuchtet, die permanent in der ewigen Redaktionssitzung des Internets sitzen, in der alle ersten Ideen Hunderte Male rausgehauen werden. Weil die meisten nicht ahnen, wie viel Arbeit es bedeuten kann, aus allen Ideen, die zu finden und zu kompilieren, die auszuwählen, es wirklich in die Welt zu setzen lohnt. Und wie viel Liebe darin stecken kann. Weil all die anderen Welten im Bahnhofskiosk sterben, die TITANIC in die eigene holen kann. Weil halt alles mal an finanzielle Grenzen stoßen muss, das sich nie um solche geschert hat. Weil es nicht der Auftrag ist, Gewinn zu machen.

Es wäre zutiefst schade, wenn nicht noch eine gute Weile junge Menschen dieses Magazin machen könnten, die genauso gut hier im Netz sich präsentieren könnten, statt die kollektive Freiheit der TITANIC zu erarbeiten. Und sei es nur, damit ich sehen kann, wie sie scheitern. Immer wieder. Jeden Monat. So wie die vielen anderen vor ihnen.

Was ich mit all dem sagen will: Abonniert TITANIC, ihr Pfeifen! Jetzt sofort!

Tim Wolff, geboren 1978, ist Satiriker und Journalist. Von 2013 bis 2018 war er Chefredakteur der Satirezeitschrift TITANIC und veröffentlichte Texte unter anderem im Mannheimer Morgen, der taz, für ND und Konkret. Heute ist er Autor für das ZDF Magazin Royal von Jan Böhmermann. Zuletzt erschien von ihm im Fischer Verlag das Buch „Best of Sapiens“.