Treffen sich zwei

© Alamode

Noch vor dem Start machte „Blau ist eine warme Farbe“ von sich reden, oder was bisher geschah: Der Film erhielt die Goldene Palme, die in Cannes eine von Steven Spielberg angeführte Jury – ungewöhnlich genug – zu gleichen Teilen an den Regisseur Abdellatif Kechiche und die beiden Hauptdarstellerinnen Léa Seydoux und Adèle Exarchopoulos vergab. Dann aber ein großer Konflikt, der sich über diverse Interviews und Stellungnahmen hinweg zwischen eben den Palmen-Gewinnern entwickelte. Exarchopoulos und vor allem Seydoux warfen Kechiche in Pressegesprächen obsessives Verhalten an der Grenze zum Sadismus und darüber hinaus vor.

Einstellungen, die er beim Dreh in endlosen Takes bis zur Erschöpfung der Schauspielerinnen wiederholte, ständige Verlängerung der Dreharbeiten ohne absehbares Ende (es wurden dann fünfeinhalb Monate und 700 Stunden gedrehtes Digitalmaterial), ein über zehn Tage sich erstreckender Sexszenendreh mit Plastikvaginen zum Persönlichkeitsschutz, bei dem sich Seydoux laut eigener Aussage wie eine Prostituierte vorkam. Kechiche war verletzt, schlug zurück, beschimpfte Seydoux als verwöhnte Klemmzicke (in etwas anderen Worten) und machte in einem mimosenhaft aufrechnenden Statement alles andere als eine gute Figur. Irgendwann meinte er, es wäre besser, der Film käme bei all dem Ärger erst gar nicht ins Kino.

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Nun ist er aber da und spricht für sich, drei Stunden lang. Mit den ersten Blicken schon auf Adèle begreift man: Das ist eine Liebesgeschichte. Regisseur und Kamera haben sich in die von Kechiche entdeckte Debütantin Adèle Exarchopoulos verliebt, und zwar truly und madly und deeply. In jede einzelne Geste, in den offenen Mund der schlafenden jungen Frau, in ihr immer etwas unsortiertes langes Haar. Mehr und mehr zeigt die Kamera, wieder und wieder. Adèle schläft, sie sitzt im Unterricht, sie liegt und steht und weiß nicht, wie ihr geschieht, und blickt und träumt.

Die Großaufnahme ist das Mittel der Wahl: die Augen, der Mund, die Gesten, die Haltungen – eine intime Beziehung zwischen Kamera und Schauspielerin/dargestellter Figur, bevor noch irgendetwas weiter geschieht. Ja, bevor noch viel geschieht, mit dem jungen schönen Mann etwa (mit dem aber letztlich, trotz Sex, nicht viel geschieht), liegt Adèle schon im Bett und masturbiert mit sehr entschieden entblößten Brüsten zur Vorstellung einer blauhaarigen Frau: Das ist Emma, die man nur kurz einmal sah, auf der Straße, ein flüchtiger unvergesslicher Blick.

Coup de foudre also, Kamera, blauhaarige Frau, nackter Schauspielerkörper, in der Schule dazu Literatur, „La vie de Marianne“, unvollendeter Roman von Marivaux, der junge Mann, mit dem es nichts wird, hat sogar die „Gefährlichen Liebschaften“ gelesen (sonst aber nichts), da hat man dann schon eine Menge fortgeschrittenster Literatur zum Thema Liebe. Kechiche macht das gern, er kommt vom Theater, als Schauspieler und Regisseur, in seinem besten Film „L’esquive“ hat er eine Liebesgeschichte und die ganze Erzählung raffiniert um eine Marivaux-Inszenierung gestrickt. Das ist aber nie prätentiös, viel eher emanzipatorisch gemeint, als wollte er sagen: Diese jungen Durchschnittsmenschen erleben private Dramen auf Augenhöhe mit der Weltliteratur. Sie erkennen sich, wir erkennen sie darin wieder. Die Literatur gibt uns die Sprache zu erkennen, was wir fühlen.

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Und der Film kann die Sprache festhalten und die Körper, darin sieht Kechiche die zentrale Aufgabe des Kinos. Er erzählt darum auch keine so besonderen Geschichten. „Blau ist eine warme Farbe“ ist wirklich nicht mehr als ein Liebesdrama, deutlich weniger sozial situiert als in früheren Filmen; nur kurz einmal eine Demonstration, gemeinsames Essen mit den Eltern der Anderen, das bleiben sehr grobe Striche. Fast alles andere blendet der Film aber aus, zeigt immer nur Emma und Adèle, beim Sprechen, bei der Liebe und bei dem, was danach kommt. Er ist dabei ganz Mitempfinden und Blick, volle Konzentration auf die Figuren, ihr Empfinden, ihre Passion und ihr Leiden.

Aber ist Konzentration das richtige Wort? Bei einem Film, der seine Realität nicht aus der Wirklichkeit schlägt wie Michelangelo seine Skulptur aus dem Stein; bei einem Regisseur, der auch nicht an die Wahrheit glaubt, die sich in langen ungeschnittenen Sequenzen entbirgt; der vielmehr unendlich viel spielen und probieren und wiederholen und noch einmal und noch einmal machen lässt, der obsessiv Material anhäuft, aus dem er im Schnitt dann den einen wirklichen als ganz sicher nicht einzig möglichen Film montiert.

Natürlich merkt man das, es gibt hier kaum Fassung und Hegung, sondern Erstreckung von Szenen, die aus dem Fluss möglicher und spürbar existierender anderer Bilder gefischt sind. Ein Realismusbegriff steckt dahinter, der auf Beobachtung setzt, auf Müdespielen und Erschöpfung, auf das Erhaschen von Momenten, die sich erst im Kontrollverlust der Darstellerinnen ergeben. Und natürlich ist der Konflikt programmiert: Schauspieler möchten noch über den Selbstverlust im Spiel die Kontrolle behalten. Dagegen arbeitet Kechiche an, sichtlich, spürbar, brutal. Es ist eine Rohheit, die hier Intimität produziert. Anders gesagt, und nicht weniger problematisch: Kechiche glaubt, dass es zu Epiphanien als Erscheinungen des Realen gerade da kommt, wo er den Widerstand des Willens der Darstellerin bricht.

Aus dieser Perspektive wird die Frage nach der langen Sexszene zwischen den beiden doch sehr interessant. Nicht als Frage nach dem männlichen oder weiblichen Blick oder danach, ob die Darstellung realistisch, voyeuristisch oder pornografisch ist. Das sieht und rahmt jede und jeder anders. Die Szene ist vielmehr wichtig, weil sie in der Ästhetik des Films ihre sehr spezifische Logik hat: In ihr kulminiert der Realismusbegriff von Kechiche, hier behauptet er die tiefste Wahrheit, die seine Art des Filmemachens nur finden kann. Er ist verletzt von der Kritik wie einer, der liebt. Und für ihn ist es Liebe, er liebt seine Adèle, wie gesagt, wie verrückt.

Wenn diese Liebe aber darin ihren Höhepunkt findet, dass sie kaputtgespielten Darstellerinnen beim endlosen Vögeln zusieht, nicht aufhört damit und immer noch einen Schnitt weiter gehen muss, dann hat diese Liebe, man kann es nicht anders sagen, sadistische Züge. Kann man natürlich trotzdem oder gerade seiner Konsequenz wegen toll finden. Nur leugnen sollte man es der Ehrlichkeit halber nicht.

Diese Kritik erschien zuerst in: Der Freitag 51/2013

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Blau ist eine warme Farbe“.

Blau ist eine warme Farbe
(La vie d’Adèle)
Frankreich 2013

Regie: Abdellatif Kechiche – Drehbuch: Julie Maroh, Abdellatif Kechiche, Ghalia Lacroix – Produktion: Brahim Chioua, Laurence Clerc, François Guerrar, Abdellatif Kechiche, Vincent Maraval, Olivier Théry-Lapiney – Kamera: Sofian El Fani – Schnitt: Camille Toubkis, Albertine Lastera, Jean-Marie Lengelle, Ghalya Lacroix – Verleih: Alamode Film – FSK: ab 16 Jahren – Besetzung: Adèle Exarchopoulos, Léa Seydoux, Jeremie Laheurte, Catherine Salée, Aurélien Recoing, Sandor Funtek, Karim Saidi, Baya Rehaz, Aurelie Lemanceau – 179 min. – Kinostart (D): 19.12.2013

Ekkehard Knörer, geboren 1971, in Würzburg, Austin (Texas) und Frankfurt (Oder) Deutsch, Englisch, Philosophie, Kulturwissenschaften studiert. Promoviert zur Theorie von Ingenium und Witz von Gracián bis Jean Paul. Von 1998 bis 2008 die Filmkritik-Website Jump Cut betrieben. Texte zu Film, Theater, Literatur für Perlentaucher, taz, Freitag, diverse andere Medien. Seit 2012 Redakteur, seit 2017 auch Mitherausgeber des Merkur. Ebenfalls Mitherausgeber des Filmmagazins Cargo.