Am 13. und 14. Februar 1945 flogen alliierte Bomberverbände einen Angriff auf Dresden und brachten Tod und Verheerung über die Zivilbevölkerung. War das schreckliche Opfer notwendig, um den Krieg zu verkürzen, so wie der Einsatz der Atombombe in Japan notwendig schien, um ihn zu beenden? Oder handelt es sich um eine der Gräueltaten, derer sich auch „die Guten“ in diesem Krieg schuldig gemacht haben? Das Trauma setzt sich in der Erinnerung fort, im Verdrängen und Verschweigen ebenso wie in ideologischem Missbrauch.
Dass man davon erzählen muss und es doch nicht kann, davon handelt der autobiografisch grundierte Roman „Slaughterhouse 5“ von Kurt Vonnegut aus dem Jahr 1969. Seine Relektüre führt auch zu den Fragen, die uns im Augenblick bedrängen: Welche Bilder, welche Erzählungen, welche Erklärungen und welche Gefühle werden bleiben von den Angriffen auf Kiew, Odessa oder Mariupol? Man wird erzählen müssen und es doch nicht können. Man wird nicht erzählen können und es doch müssen.
„Slaughterhouse 5“ ist zunächst ein Roman mit etlichen autobiografischen Bezügen über den Bombenangriff, erlebt in einer Gruppe amerikanischer Kriegsgefangener, die im Schlachthof der Stadt (Gebäude 5) untergebracht sind. Nebenbei ist es einer, der die Skrupel beim Wiedergeben des Krieges in literarischer Form ständig reflektiert – so erlebt der Autor im ersten Kapitel den sehr berechtigten Widerwillen der Frau eines ehemaligen Kriegskameraden gegen eine Kriegsliteratur der Helden, des Glamour und des Rechtfertigens. Ihr verspricht er, dass in seinem Buch keine Rolle für John Wayne zu finden sein werde, und ihr verdankt er den vollständigen Titel „Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug“. Die Skrupel gehen weiter.
Kurt Vonnegut: „Für jeden getöteten Menschen erhielt ich zwei bis drei Dollar“
Die Comic-Version zitiert den Autor zu Beginn: „Die Gräueltat von Dresden war ebenso unfassbar kostspielig und haarklein geplant wie letztlich sinnlos. Nur ein Mensch auf dem ganzen Planeten hat davon profitiert. Und zwar ich. Ich habe dieses Buch geschrieben, das mir eine Menge Geld und ein gewisses Ansehen eingebracht hat, wie immer dieses aussehen mag. Wie man es dreht und wendet, für jeden getöteten Menschen erhielt ich zwei bis drei Dollar. Was für ein Beruf.“
Und doch ist es dieser Beruf des Schriftstellers, der über persönliche Trauma-Bewältigung, mythische Umformung und Autorenhonorar hinausführen kann, um vollkommen pflichtgemäß Zeugnis abzulegen und die Probleme dieses Zeugnisablegens zu bearbeiten und diese elend schmerzhaften Fragen zu stellen: Was macht Menschen in Kriege gehen? Und was machen die Kriege mit den Menschen? Etwas zerbricht zwischen dem Ich und der Welt, so viel ist klar. Es ist also viel mehr als ein literarischer Trick, wenn mit den Kriegserlebnissen dem Helden namens Billy Pilgrim zuerst die lineare Zeit-Ordnung verloren geht: „Hört: Billy Pilgrim hat sich von der Zeit losgelöst.“
Es geht um einen sehr jungen Mann, der unbewaffnet als Hilfskaplan in den Krieg in Europa geschickt wird und der sich, ehe er sich’s versieht, mit einer kleinen Gruppe Soldaten im Niemandsland zwischen den Fronten verirrt und nach endlosen Strapazen in deutsche Kriegsgefangenschaft und immer wieder an den Rand des Todes gerät. Doch ebenda verlässt er die Zeitschiene, die normalerweise ein bürgerliches Leben bestimmt. Fortan springt er ständig zwischen den verschiedenen Zeiten seines Lebens im Krieg und danach als Familienvater und wohlhabender Optiker, aber auch zwischen seinem irdischen Dasein und seinem Aufenthalt auf dem Planeten Tralfamadore, wo er, zwar unter Zoo-ähnlichen Bedingungen (später auch mit einer Frau namens Montana Wildhack, die auf Erden für ihre freizügigen Filme bekannt ist), die Segnungen der vierten Dimension kennenlernt.
Es spielen weiterhin bedeutende Rollen: ein rachsüchtiger GI, eine singende Vierergruppe, Billys Kinder, die fürsorgliche Barbara und Robert, der erst das schwarze Schaf der Familie war und dann mit den Green Berets nach Vietnam ging, ein Lehrer, der den einzigen zivil-heroischen Auftritt in dem Buch hat und dann wegen Plünderung eines Teekessels erschossen wird, die korpulente Ehefrau, ein Hund und eben die Tralfamadorianer, die die Gestalt von Händen mit Augen haben. Sie sind es, die Billy Pilgrim lehren, dass das irdische Konzept der Zeit entschieden zu wenig-dimensional ist. Was geschieht, ist geschehen, geschieht und wird immer geschehen. Außerdem gibt es den glücklosen SF-Autor Kilgore Trout und eine Reihe von Begegnungen mit christlichen Motiven, ausgelöst, vielleicht, durch ein besonders sadistisches Kreuz-Bildnis an der Wand, das seinen Schatten in die Kindheit von Billy Pilgrim warf.
Im Krieg gibt es keine Mitmenschlichkeit
Kurt Vonnegut gelingt es, aus dem Zerbrechen einer Erzählung (die eben auch das Zerbrechen eines Lebens ist) eine Ahnung des Unerzählten und Unerzählbaren zu machen. Das Grauen des Krieges ist so wenig realistisch wiederzugeben wie metaphorisch zu imaginieren. „Hört: Billy Pilgrim hat sich von der Zeit losgelöst.“ So fängt das an. Oder anders übersetzt: „Hört mal her: Billy Pilgrim hat sich aus dem Lauf der Zeit gelöst.“ Die Lakonik mancher (wiederkehrender) Wendungen ist in andere Sprachen schwer zu übertragen. Das gilt gewiss auch für das „So it goes“, das als kleiner Chorus immer wieder nach den Erfahrungen von Tod und Vergänglichkeit eingesetzt wird und das mit „So geht das“ (in der Übersetzung von Kurt Wagenseil), „Wie das so ist“ (in der Neuübersetzung von Gregor Hens) oder „So ist das“ (in der Übersetzung der Graphic Novel durch Matthias Wieland) doch nie ganz den Ton des Originals trifft.
Denn „Slaughterhouse 5“ ist auch ein Buch, das die Auflösung von Sprache wiedergibt, in die verschiedensten Jargons, Sprachregelungen, Sprachspiele, Codes und semantischen Schleifen. Niemand versteht in „Slaughterhouse 5“ irgendeinen anderen, ständig geht es um Drohungen, Geheimnisse, Versprechen und Lügen, ständig sagt jemand etwas, das andere nicht hören wollen, ständig wird „Verständnis“ höhnisch abgewiesen. Im Kern dieses erzählerischen Fragmentierens steckt eine tiefe Sehnsucht nach Mitmenschlichkeit, die sich in Krieg und Unfrieden nicht erfüllen kann.
„Slaughterhouse 5“ hat schon eine kleine Geschichte der Medien-Multiplikation hinter sich, darunter der Spielfilm von George Roy Hill. Nun also eine Graphic Novel, geschaffen von zwei Vertretern einer neuen Generation im Medium, die sich durch experimentelle Vielseitigkeit und hohes Formbewusstsein auszeichnen. Der kanadische Szenarist Ryan North wurde durch seine Found-Footage-Comics und einen Survival Guide für Zeitreisende bekannt, der spanische Zeichner Albert Monteys war Chefredakteur der Satirezeitschrift „El Jueves“ und gestaltete Comics zu einem Song-Zyklus des Comedy-Folksingers Jonathan Coulton, der verschiedene Lebensphasen eines so fiktiven wie wiedererkennbaren Typen beschreibt. Die beiden haben also Erfahrungen mit Fragmentierung, Selbstreferenz, Crossover und Verfremdung.
In der Grundanlage ist „Schlachthof 5“ eine klassische Comic-Adaption, stilistisch aus dem Bereich des Semi-Funny schöpfend, also mit leicht karikaturhaften Figuren in einem realistischen Umfeld. Deutlich sind die Bezüge zur Tradition der „ligne claire“ der franko-belgischen Schule der klaren Konturierung und der seriellen Bildgestaltung: Oft sind Bilder aneinandergereiht, die gleichsam in derselben „Einstellung“ minimale Veränderungen festhalten, dann wiederum zeigen panoramatische Ganzseiten das Geschehen in genau wiedergegebenen Architekturen und Landschaften. Was Vonnegut mit seinem Text (der ausgesprochen respektvoll behandelt wird) erreicht, erreichen North und Monteys durch ihren Umgang mit Bildanordnungen: Die Zeit gerät aus den Fugen.
Der gezeichneten Version von Billy Pilgrim kommt man naturgemäß in diesem Stil „persönlich“ näher, als man es der literarischen Vorlage tut; der Kerl ist einer der sympathischen Toren, die wir aus den Comics kennen und denen wir uns gern anvertrauen. Aber immer wieder geht Billys Blick auch ins Leere, geht buchstäblich verloren zwischen dem objektiven und dem subjektiven Aspekt, zwischen Wirklichkeit, Traum, Wahn und … Dunkelheit. Die letzten Panels von Billy Pilgrims Lebensgeschichte enthalten nichts als tiefes Schwarz.
Schließlich steckt die Graphic Novel aber auch voller Zitate aus der Comic- und Filmgeschichte, und mit Verfremdungen und Spiegelungen werden verschiedene Ebenen von Erzählung und Wirklichkeit erzeugt. Zitiert wird etwa die siebdruckhafte Farbgestaltung der Comics aus der früheren Zeit des Mediums, aber auch Op-Art-Effekte und surrealistische Bilder. Dann wird wieder mit einem direkten reportagenhaften Realismus gearbeitet. Im Gegensatz zu Hills Film, der in seinen Sequenzen erstaunlich konventionell bleibt, findet der Comic seine eigene Art, diesen Verlust an Kontinuität und die Brüche der „Wirklichkeit“ im Erleben des Billy Pilgrim wiederzugeben.
Auflösung von Mythen und Gewissheiten
Ist „Slaughterhouse 5“ nun, als literarische, filmische oder grafische Erzählung, ein Antikriegsstück? Gewiss nicht in dem Sinn, dass es Erklärungen lieferte, Modelle für eine „richtige“ Haltung entwürfe, eine moralische Ordnung über die Trümmer- und Leichenfelder legte. Wohl aber in dem Sinne, dass die Suche nach dem Ehrlichen und dem Menschlichen nicht aufgegeben wird. Billy Pilgrim hat die Wirklichkeit des Krieges und den gedankenlosen Alltag danach nicht ertragen und musste deswegen auf den Planeten Tralfamadore entführt werden. Aber er muss auch immer wieder zurückkehren, mit dieser Sehnsucht, mit seinen Mitmenschen, mit seinen Erinnerungen, mit seiner Welt Frieden zu schließen. „Ich glaube, ihr müsst euch einen Haufen wunderbarer neuer Lügen einfallen lassen, sonst werden die Leute nicht mehr weiterleben wollen“, sagt Eliot Rosewater, der Billy im Krankenhaus auf den Geschmack von Science-Fiction-Fantasien bringt.
Aber in den Lügen über den einen Krieg steckt immer schon die Vorbereitung auf den anderen, und von Dresden über Vietnam und Sarajewo bis Mariupol gibt es, neben dem finsteren Willen, die Welt in eine unbewohnbare Kraterlandschaft und Menschen in tote Dinge zu verwandeln, nur die eine Kontinuität: das Lügen. „Schlachthof 5“ ist nicht eine große Wahrheit, die ihm entgegengehalten wird. Die gibt es wahrscheinlich gar nicht. Es ist vielmehr ein sanfter Prozess der Auflösung von Mythen und Gewissheiten, eine Vermehrung der Perspektiven, eine Montage der Widersprüche zwischen dem Erkennen der Wirklichkeit und dem Weiterleben-Wollen. Billy Pilgrim, aus seiner Zeit gefallen, irgendwo da draußen, vielleicht.
Dieser Beitrag erschien zuerst in: Freitag 16/2022
Georg Seeßlen, geboren 1948, Publizist. Texte über Film, Kultur und Politik für Die Zeit, Der Freitag, Der Spiegel, taz, konkret, Jungle World, epd Film u. v. a. Zahlreiche Bücher zum Film und zur populären Kultur, u. a.: Martin Scorsese; Blödmaschinen. Die Fabrikation der Stupidität (zusammen mit Markus Metz); Tintin, und wie er die Welt sah. Fast alles über Tim, Struppi, Mühlenhof & den Rest des Universums; Liebe und Sex im 21. Jahrhundert; Das zweite Leben des ›Dritten Reichs‹. (Post)nazismus und populäre Kultur (3 Bände); Trump! Populismus als Politik; Der Rechtsruck; Coronakontrolle. Nach der Krise, vor der Katastrophe. Kürzlich erschien von ihm Wir Kleinbürger 4.0 bei der Edition Tiamat.