Als im August 1962 „Amazing Fantasy“ #15 erschien, war der Marvel-Verleger Martin Goodman noch skeptisch, ob Stan Lee den Geniestreich wiederholen könnte, der ihm mit den „Fantastic Four“ kurz zuvor gelungen war. Er ließ aber trotz seiner Zweifel Spider-Man in diesem Heft debütieren, und die Fans dankten die verlegerische Zuversicht mit einer jahrzehntewährenden Zuneigung. Vor allem in der Rückschau beeindrucken die Figuren, die Stan Lee in den 1960er Jahren schuf und die bis heute Comic und Kino bevölkern: die Fantastic Four (1961), The Incredible Hulk (1961), Thor (1962), die X-Men (1963), Iron-Man (1963), allen voran aber ein Held, der bis heute als erfolgreichster Marvel-Superheld gilt: Spider-Man.
Während ich die Entwicklung einiger Superheld*innen versuche, kontinuierlich zu verfolgen, laufe ich der Spinne nur sporadisch über den Weg bzw. fliege in ihr Netz. Die berühmte Black Issue von „Amazing Spider-Man“ #36 (2001) über den Terrorakt von Nine Eleven ist so ein Fall, natürlich die Verfilmungen von Sam Raimi und ebenso die aktuellen Kinoerfolge von Jon Watts. Kurzum, ich bin kein Fan – die schwergewichtige Comic-Veröffentlichung des Taschen-Verlags aber kann man auch als sporadische*r Spider-Man-Leser*in kaum übersehen: Sie ist groß (28 x 39,5 cm), schwer (4,83 kg) und dick (698 Seiten).
Der Band enthält neben den ersten 21 von Stan Lee und Steve Ditko geschriebenen und gezeichneten Storys ein Vorwort des Marvel-Redakteurs Ralph Macchio, der in den 1990er Jahren Spider-Man betreute (und trotz der Namensidentität nicht mit dem Teeniestar aus „Karate Kid“ verwandt ist). Sein 20-seitiges und reich illustriertes Vorwort führt in die Entstehungsgeschichte der Figur ein und lässt, ganz im Stile eines Geburtstagsgeschenks, die Auseinandersetzungen zwischen Lee und Ditko, wer wie viel Anteil an der Figur hatte, nur am Rande anklingen. Stattdessen bekommen wir einen Einblick in die Hintergründe der ersten Storys, in denen auch Doctor Octopus bereits vorgestellt wird.
Im Anschluss an die ersten Geschichten um Peter Palmer folgt eine mehrseitige Galerie mit bibliographischen Angaben zu Cover-Artists etc. und ein Abdruck der Origin Story in Form der unkolorierten Tuscheseiten. Natürlich gab es schon lange die Gelegenheit, diese frühen Spider-Man-Geschichten auch in Neuausgaben zu lesen, so etwa in der Reihe „Marvel Masterworks“. Die vorliegende Ausgabe allerdings hat den Charme, auch die originalen Werbeanzeigen der comic books zu enthalten, sodass der Zeitgeist der 1960er ganz kräftig durch den Blätterwald weht.
Interessant wird ein Vergleich mit dem bei Panini geplanten Nostalgie-Projekt sein. Dort erscheinen nicht nur seit Juni 2020 die Daily- und Sunday-Strips in einer aufwändigen mehrbändigen Gesamtausgabe, Panini hat für Juni 2022 eine 1000-seitige Spider-Man-Geburtstagsveröffentlichung („Classic Edition“) angekündigt, die damit noch um einiges umfangreicher ist als die vorliegende Taschen-Ausgabe.
Warum eigentlich Peter Palmer? Parker. Peter Parker heißt der jugendliche Held doch, der zu den beliebtesten Marvel-Helden aller Zeiten zählt. Das stimmt, aber Stan Lee hat sich einen berühmten Verschreiber geleistet, den die vorliegende Ausgabe natürlich nicht bereinigt, sondern die historische Wirklichkeit so fehlerhaft belässt, wie sie halt ist. Stan Lee hat in „Spider-Man vs. The Chameleon“ (in „Amazing Spider-Man“ #1) mehrfach den Namen seines Helden falsch geschrieben, weil er sich, wie er selbst zugab, schlichtweg nicht mehr genau erinnerte. Solcherlei ist ihm nicht nur einmal geschehen, sondern etwa auch bei Hulks bürgerlichem Alter Ego, dem Stan Lee einmal den Vornamen Bob andichtete, aber das macht den großen Zampano doch irgendwie nur sympathischer.
Ganz in der Tradition der Taschen-Monumentalausgaben von Winsor McCays „Little Nemo“, George Herrimans „Krazy Kat“ (beide von Alexander Braun) oder Grant Geissmans „The History of EC Comics“ lässt sich auch dieser Spidey-Band nicht einhändig oder als Bettlektüre konsumieren. Bei diesem Coffee-Table-Buch ist für den Coffee kein Platz mehr auf dem table, aber es empfiehlt sich eh, Getränke fernzuhalten, um das schöne, aber teure Buch keinen Risiken auszusetzen.
Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.