Das Wissen, dass Bilder die Wirklichkeit nicht einfach abbilden, sondern gleichsam erschaffen, gilt sicher längst nicht mehr nur unter Akademikern als ein Gemeinplatz. Interessant ist und bleibt dagegen die Frage, wie die verschiedenen Arten von Bildern denn nun ganz genau Realität „erzeugen“: Was sind jeweils die Wirklichkeiten eines impressionistischen Gemäldes, einer Schwarz-Weiß-Fotografie, eines GIF (Graphics Interchange Format) oder eines Meme, und wie kommen sie zustande?
Im Falle der Karikatur lässt sich diese Frage annähernd über Bezeichnung der Art des Bildes beantworten. Caricatura kommt aus dem Italienischen – so klärt mich das Herkunftswörterbuch auf – und steht für die „übertriebene, komisch verzerrte Darstellung charakteristischer Eigenarten von Personen oder Sachen“. Auf diese Weise der (Über-)Zeichnung werden entweder gesellschaftliche Guppen auf ein Klischee reduziert (z. B. der Zigarre rauchende Kapitalist) oder die Wiedererkennung bekannter Personen durch Überbetonung unverkennbarer Attribute gewährleistet (z. B. Gerhard Schröders buschige Augenbrauen).
Oft steht dahinter eine satirische, gesellschaftskritische Absicht des Zeichners, nicht selten handelt es sich jedoch einfach nur um Verleumdung und Hetze. Freilich ist die Grenze zwischen beiden Wirkungsabsichten recht fließend und im Einzelfall willkürlich gezogen, wie im Falle der Karikatur des ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu durch den Zeichner Dieter Hanitzsch: Die Meinungsfreiheit der Kunst steht dann gegen den Schutz gesellschaftlicher Minderheiten und/oder individueller Persönlichkeitsrechte.
Als Geschichts- und Politiklehrer einer Gemeinschaftsschule bin ich in den letzten Jahren zu der Meinung gelangt, dass Memes Karikaturen bzw. Cartoons in ihrer Funktion als bissige Kommentare des gesellschaftlichen und politischen Zeitgeschehens abgelöst haben und gerade die jüngeren Generationen aufgrund ihres medialen Kontextes und ihrer Intertextualität eher ansprechen. Memes funktionieren etwas anders als Karikaturen, erzeugen aber eine ähnliche Wirkung: Sie verfremden und verdichten Wirklichkeit, regen zur (politischen) Positionierung an und sind mehr oder weniger komisch.
Seit dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine hat sich dieses Bild in mir nicht mehr halten können. Denn ganz offensichtlich haben die Karikaturen längst ihre einst angestammte Heimat – Zeitungen und Zeitschriften, deren Bleiwüsten sie einst auflockerten – verlassen und drängeln sich in den virtuellen Raum der sozialen Netzwerke und Messengerdienste, wo jene Memes und GIFs bisher verlässlich den grafischen Leitkommentar bildeten.
Eine wichtige Rolle bei der medialen Verbreitung spielt hierbei die deutsche Plattform Toonpool.com, die Karikaturen von mehr als 3000 Zeichnerinnen und Zeichnern aus beinahe aller Welt zugänglich macht und verwertet. Eine Auswahl der dort zum Krieg in der Ukraine veröffentlichten Cartoons ist in der virtuellen Ausstellung „The War believed dead – Der totgeglaubte Krieg“ des Dortmunder Comic- und Cartoonmuseums Schauraum zu sehen. Bernd Pohlenz, der Kurator der Werkschau, ist zugleich künstlerischer Leiter von toonpool.com und selbst Zeichner. Angesichts der zahlreichen ausgestellten Cartoons von außereuropäischen Künstlern, zeige sich – so Pohlenz in einer Stellungnahme – „dass zu diesem Thema die ganze Welt in Aufruhr“ sei.
Ein Teil der zu sehenden Werke ist vom Typus her „personale Individualkarikatur“ und zeigt – surprise, surprise! – Wladimir Putin, und zwar mal als Put Bill, dann als Säugling an der Flasche von „Mutter Krieg“, als Irren in der Zwangsjacke, als skrupellosen absoluten Monarchen, als „Vladzilla“ usw. Dass die Cartoons hier nicht gerade um Sympathie oder Empathie mit dem russischen Staatspräsidenten heischen, versteht sich gewiss von selbst. Interessant ist dagegen, dass es eine [!] Karikatur des ukrainischen Präsidenten gibt. Diese zeigt den oft jugendlich wirkenden Selenskyj mit geballter Faust, großen Kulleraugen und zum Herzen geformten Mund in ein Mikrofon sprechen und ist wohl die komplexeste und mehrdeutigste der Individualkarikaturen, weil sie ironisch auf die verklärende mediale Rezeption des ukrainischen Staatspräsidenten anspielt.
Der andere Großteil der Cartoons ließe sich zum Bereich „apersonale Sachkarikatur“ zählen, die mit Gegenständen, Symbolen oder Bildmetaphern arbeitet: Neben zahlreichen Reflexionen über die – selbstverschuldete – Bedrohung der Menschheit durch Krieg und atomare Bewaffnung, gibt es originelle Einlassungen zu Putins Tisch, zu „doppelten Standards“ der EU hinsichtlich der Kriegsflüchtlinge und der Frage des Begehrens der beiden Kriegsparteien. Eine Karikatur thematisiert die Überführung der stalinistischen Bildpolitik der Retusche ins Internetzeitalter, eine andere zeigt Don Quijote im Gegenüber russischer Panzer und besitzt eine meiner Meinung nach recht uneindeutige Botschaft: Ist der Widerstand der Ukrainer nun ein heldenhafter oder ein sinnloser Akt? (Cervantes Roman hat im Laufe der Jahrhunderte schließlich beide Deutungen erfahren.)
Auch das Werk eines russischen Karikaturisten wird gezeigt. Es zeigt ein Schiff, das an das vermeintlich unsinkbare und letztlich doch untergegangene Passagierschiff Titanic erinnert und zugleich den Schriftzug „Democracy – Ship of fools“ trägt. Der Veranstaltungstext ordnet die Karikatur aufgrund der Herkunft des Zeichners und einer naheliegenden Lesart der russischen Propaganda zu, allerdings ist diese gar nicht platt, sondern hat theoretische Tiefe: Das „ship of fools“ spielt nämlich auf Platons in der Politeia entwickelte Allegorie vom „Staatsschiff“ an, das außer Kontrolle gerät, wenn es nicht geplant und überlegt „gelenkt“ wird. Platon verweist in seinem Gleichnis auf das Problem dysfunktionaler Herrschaft, wozu der „falsche Prophet“ (so Karl Popper über Platon) eben auch die Demokratie zählt. Allerdings ließe sich die Botschaft des Cartoons auch mit einer radikaldemokratischen Kritik am Modell der repräsentativen, liberalen Demokratie vereinbaren, nach der eine politische Elite nicht zu den notwendigen Entscheidungen fähig ist, weil diese letztlich an den Grundfesten ihrer Herrschaft rühren würden. In Zeiten des Klimawandels, abschmelzenden Gletschern und einer auseinanderbrechenden Arktis ist das im Subtext der Karikatur verborgene Bild des Eisberges wohl ein recht treffendes. Freilich wäre es aber nach einer solchen Lesart keine Karikatur zum Ukrainekrieg mehr.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 13.05.2022 auf: Taz-[ˈkɒmik_blɔg]
Mario Zehe (*1978) ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Lehrer für Geschichte, Politik & Wirtschaft an einer Freinet-Schule bei Quedlinburg (Harz). Seit vielen Jahren liest er Comics aller Art, redet und schreibt gern darüber, u. a. im [ˈkɒmik_blɔg] der Taz und für den Freitag.