Erinnerungen eines Geflüchteten

© RYOT Films

Ein Zuhause sei für ihn ein Ort, an dem er sich in Sicherheit fühle und dauerhaft bleiben könne, sagt Amin Nawabi zu Jonas Poher Rasmussen. Der dänische Regisseur hat sich mit seinem aus Afghanistan stammenden Freund zu einem langen Interview verabredet, in dem Amin von seiner traumatischen Flucht erzählt. Zwanzig Jahre lang konnte der mittlerweile 36-jährige Akademiker nicht darüber sprechen, musste er Geschichten erfinden, um sich vor seiner Angst zu schützen. Im Setting einer psychoanalytischen Sitzung, für deren Hintergrund der Interviewer das Muster eines orientalischen Teppichs wählt, stellt sich Amin in der Gegenwart des Films seinen Erinnerungen und damit der Wahrheit. Als Mittel der Distanzierung verwendet Jonas Poher Rasmussen, der selbst aus einer Künstlerfamilie ehemals geflüchteter Juden stammt, das Medium der Animation, das durch verschiedene Verfremdungstechniken zusätzlich gebrochen wird. So wechselt der Film immer wieder zwischen erzählter Gegenwart und erinnerter Vergangenheit, die wiederum durch historische Dokumentarfilmaufnahmen illustriert wird; außerdem verweist und zeigt der preisgekrönte Film „Flee“ seine eigene Inszeniertheit.

Auch die animierten Sequenzen weisen deutliche stilistische Unterschiede auf und kontrastieren damit das innere und äußere Erleben des Protagonisten. Während Amins Kindheit zu Beginn der 1980er Jahre in Kabul in lebendigen Farben und mit klar konturierten Figuren gezeichnet ist, erscheinen seine Ängste und Albträume als gesichtslose, verzerrte Schatten in Schwarzweiß, deren fragmentierten Bewegungen in wenigen Strichen über die Leinwand huschen. Das Ungreifbare und Verdrängte, das sich darin bedrohlich und schmerzhaft Bahn bricht und noch immer Amins Leben entscheidend bestimmt, ist Gegenstand des gewissermaßen „therapeutischen Interviews“. Durch seine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erhofft sich Amin, der als Postdoktorand zwischen Princeton in den USA und seinem Wohnort in Dänemark pendelt, auch eine Perspektive auf das Zusammenleben mit seinem Freund Kasper.

Doch bevor sich Amin in der Rahmenhandlung des Films endlich zu Kasper und einem gemeinsamen Domizil bekennen kann, durchlebt er noch einmal die Schrecken seiner Flucht. Schon unter den Kommunisten gerät seine bürgerliche, offensichtlich gut situierte Familie in Bedrängnis, muss dann aber überstürzt mit einem Reisevisum nach Moskau flüchten, als die Mudschaheddin Kabul erobern. Nach dem Zerfall der Sowjetunion herrschen dort Chaos, Mangel und Kriminalität, was der Film mit einer realistischen Zeichnung und historischem Bildmaterial wirklichkeitsnah erzählt. Schließlich ist Amins Familie gezwungen, sich zwischen Scheitern und Hoffen kriminellen Schleppern anzuvertrauen. Was der Heranwachsende dabei oft unter Todesangst erlebt, schildert der Film in den vielen Szenen, in denen die Flüchtenden diskriminiert, zurückgewiesen und abgelehnt werden. Als Amin schließlich als „unbegleiteter Minderjähriger“ 1995 Kopenhagen erreicht, findet seine äußere Odyssee zwar ein vorläufiges Ende; sein innerer Weg zu einem neuen Vertrauen geht allerdings weiter und führt schließlich zu Jonas Poher Rasmussens wichtigem Film „Flee“ sowie durch diesen hindurch.

„Flee“ läuft als Erstaufführung am 30.5. um 20.15 im Arte TV und steht vom 23.5. bis 28.7. in der Arte Mediathek zur Verfügung.

Flee
Dänemark, Frankreich 2020 – 85 min.
Regie: Jonas Poher Rasmussen – Drehbuch: Jonas Poher Rasmussen, Amin Nawabi – Produktion: Charlotte de La Gournerie, Monica Hellstrøm, Signe Byrge Sørensen – Montage: Janus Billeskov Jansen – Musik: Uno Helmersson – Verleih: RYOT Films

Wolfgang Nierlin, geboren 1965. Studium der Germanistik, Philosophie und Psychologie in Heidelberg. Gedichtveröffentlichungen in den Zeitschriften metamorphosen und Van Goghs Ohr. Schreibt Film- und Literaturbesprechungen für Zeitungen (Rhein-Neckar-Zeitung, Mannheimer Morgen u. a.) sowie Fachzeitschriften (Filmbulletin, Filmgazette u. a.). Langjährige Mitarbeit im Programmrat des Heidelberger kommunalen Karlstorkinos.