Lachen und weinen mit Kiki

© Universum Film

Dieser Beitrag erschien zuerst am 14.03.2020 auf: kino-zeit.de

Die Filme des Studio Ghibli sind bekannt dafür, dass sie zwar für Kinder gemacht sind, vielleicht aber erwachsenen Zuschauern sogar noch mehr Freude bereiten, weil sie so unendlich reich sind an Ebenen und Referenzen. Vor ziemlich genau 30 Jahren erblickte eine kleine Hexe mit einer großen roten Schleife im Haar das Licht der großen Leinwand. Mit dem Besen ihrer Mutter und einer sprechenden schwarzen Katze zog die 13-jährige in die Großstadt, um dort unabhängig zu werden.

Zunächst war der damalige Newcomer Sunao Katabuchi („In This Corner Of The World“) mit der Aufgabe betraut worden, die Verfilmung des Kinderbuchs „Kikis kleiner Lieferservice“ von Eiko Kadono zu inszenieren. Doch Hayao Mayazaki, der mit dem ersten Entwurf des Films nicht zufrieden war, übernahm irgendwann selbst und erklärte im Anschluss, Kikis Abenteuer stünden exemplarisch für die Probleme der meisten japanische Teenagerinnen: hin- und her gerissen zwischen einem Streben nach Unabhängigkeit und dem Vertrauen auf ihre Familie. Es gibt ganze Videoessays, die den Film auf diesen Aspekt hin untersuchen, die in Kiki eine frühe Repräsentantin der Millenials oder allgemein junger Künstler_Innen sehen, die versuchen, ihren Platz in der Welt zu finden.

Tatsächlich wurde „Kikis kleiner Lieferservice“ 1989 zu einer Art Ghibli-Wegweiser. Das Animationsstudio hatte zuvor drei Filme in die Kinos gebracht — zuletzt Isao Takahatas „Die letzten Glühwürmchen“ und Miyazakis „Mein Nachbar Totoro“, die heute zu Recht als große Anime-Klassiker gelten, damals allerdings nicht sofort den erhofften finanziellen Erfolg brachten. „Kikis kleiner Lieferservice“ aber wurde 1989 zum dritterfolgreichsten Film in Japan. Der Produzent Toshio Suzuki hielt das Studio daraufhin an, sich verstärkt an ein junges weibliches Publikum zu richten. Von „Prinzessin Mononoke“ über „Chihiros Reise ins Zauberland“, von „Arrietty — Die wundersame Welt der Borger“ bis „Die Legende der Prinzessin Kaguya“ — zahlreiche Ghibli-Produktionen erzählten seither von weiblichen Figuren, die ihre eigenen Talente entdecken und entwickeln.

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Aber — und das ist die große Stärke des Hauses Ghibli — die Filme bieten mehr als Figuren mit individuellem Identifikationspotential. Insbesondere Hayao Miyazaki setzte sich immer wieder mit universellen Themen wie dem Umweltschutz, unserer kriegerischen Vergangenheit und den Schlüssen auseinander, die wir heute daraus ziehen können und müssen. Seine Filme sind häufig wesentlich düsterer, als sie auf den ersten Blick erscheinen. In „Kikis kleiner Lieferservice“ blitzt der erste Marker dafür schon in den ersten Minuten auf. Auf ihrem Besen fliegend begegnet Kiki einem Flugzeug, das in dieser Form tatsächlich existierte: Die Handley-Page HP42 war ein britisches Langstrecken-Passagierflugzeug, im Einsatz seit 1931, das während des Zweiten Weltkrieges zum militärischen Einsatz umfunktioniert wurde. Das letzte Modell wurde 1941 zerstört.

„Kikis kleiner Lieferservice“ aber ist in einem alternativen Europa angesiedelt, in dem der Zweite Weltkrieg nie stattgefunden hat. Zu Recherchezwecken war Miyazaki dafür eigens nach Visby und Gotland in Schweden gereist, seine fiktive Hafenstadt Koriko trägt aber auch Merkmale von Lissabon, Mailand, Paris und San Francisco. Es ist denkbar, dass in diesem alternativen Europa die Handley-Page HP42 nach wie vor Passagiere von Europa nach Asien und zurück befördert hätte.

Ein schöner, kleiner, utopischer Gedanke. Der einem nichtsdestotrotz einen Stich versetzt, weil die Geschichte eben anders verlief. Das versteht auch, wer „Kikis kleiner Lieferservice“ ohne detailliertes historisches Hintergrundwissen schaut. Das Problem vom utopischen Traum, der sich in sein tragisches Gegenteil verkehrt und das Hayao Miyazaki später in „Wie der Wind sich hebt“ noch einmal genauer ausbuchstabierte, deutet sich schon in „Kikis kleiner Lieferservice“ spätestens an, wenn sich im Hintergrund ein riesiges Luftschiff über den Himmel schiebt.

Der Zeppelin — noch so ein Projekt, das einst optimistisch begonnen hatte: der große Traum vom Fliegen, vom bequemen Luftverkehr, vom Zusammenrücken der Völker, dessen jähes Ende mit dem Absturz der Hindenburg heute wie ein böses Omen erscheint — für sein größeres, endgültiges Scheitern bald darauf mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Indem Hayao Miyazaki seine Geschichte einer unsicheren Heranwachsenden in einer unübersichtlichen Welt vor einem solchen Setting ansiedelt und die Register derartiger visueller und gesellschaftlicher Traumata zieht, muss er nicht offen sentimental werden, damit wir begreifen, dass er Tränen über das Scheitern der Utopie der Moderne vergießt. Und so schauen wir „Kikis kleiner Lieferservice“ auch 30 Jahre nach seinem Erscheinen noch immer mit einem lachenden und einem weinenden Auge.

Katrin Doerksen, Jahrgang 1991, hat Filmwissenschaft nebst Ethnologie und Afrikastudien in Mainz und Berlin studiert. Neben redaktioneller Arbeit für Deutschlandfunk Kultur und Kino-Zeit.de schreibt sie über Comics, aber auch über Film, Fotografie und Kriminalliteratur. Texte erscheinen unter anderem im Perlentaucher, im Tagesspiegel oder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Sie lebt in Berlin.