Keine Nostalgie

© Amazon Studios

Die berührendste Szene ist vielleicht die, in der KJ (die Subtilität selbst: Fina Strazza) ihr Anfang zwanzigjähriges Ich im Kino beobachtet (eine Kubrick-Retrospektive, sie sehen „2001“). Die zwölfjährige KJ ist frisch schockiert von deren Liebesverhältnis zu einer Film-Kommilitonin, dessen Zeugin sie aus einem Versteck heraus wurde. Schöne Komplexität der Zeitreise-Konstellation, die weniger auf Oberflächen hinauswill (und schon gar nicht, so ganz anders als „Stranger Things“, auf Nostalgie) als auf zwischenmenschliche Turbulenzen und so große einfache Dinge wie Freundschaft, Liebe, Selbsterkenntnis, Solidarität: das Coming-Out als Fremderleben eines eigenen/anderen/späteren Selbst, als Spiegelszene gefilmt, ein Moment des jähen Schocks als Erkenntnis des „Ja, das bin ich“.

In derselben Episode, es ist die beste der ersten Staffel, war auf rasante Action ein Moment des comic relief gefolgt: Eines der Mädchen hat seine erste Monatsblutung, Tampons werden geklaut, ein Riesenteil, es ist die Ratlosigkeit groß. Ein Schock anderer Art: Mac (die verletzliche Unerschrockenheit selbst: Sofia Rosinsky) erfährt beim ersten Zeitreisesprung – in die „Gegenwart“ des Jahrs 2019 – von ihrem älteren Bruder, dass sie schon jung an einem Hirntumor starb. Sie existiert nicht mehr, nicht jetzt, nicht 1999, da besucht sie vielmehr ihr Grab. Der Bruder hat sich verändert, vom Nichtsnutz zum Arzt und Spießerpapa. Sein Rollenkonflikt ist interessant, Macs Reaktion darauf auch, Verstehensprozesse sind das, was die Serie prägt. Und sei es als schroffe Ablehnung des älteren Selbst. Weder Tiffany (furchtlos entschlossene Intelligenz: Camryn Jones) noch Erin (zurückhaltend vor Entschlossenheitsgrund: Riley Lai Nelet) sind einverstanden mit denen, die aus ihnen wurden, erleben im Schnelldurchlauf Phasen der Trauer über den geplatzten Traum ihrer selbst, heftige Konfrontation, Andeutungen von Akzeptanz.

Die Science-Fiction- und Action-Sequenzen sind Unterbrecher, Beschleuniger, am Ende aber doch vor allem auch Teil der Coming-of-Age-Szenarien, die alle vier Paper Girls erleben. Eine sehr erwachsene Serie, die es tatsächlich schafft, Zeitraffer und Geduld, Tempo und Langsamkeit, das Alberne, das Komplizierte, das Erhabene und schlichte Momente von Nähe und Solidarität zusammenzufügen. Nicht ohne Rumpeln, es fällt mehr als nur ein Sofa mit Rülpsen und Rumms vom Himmel dabei, aber auch die billigen Spezialeffekte haben ihren sehr eigenen Charme.

Dieser Beitrag erschien zuerst im „Notizen“-Blog des Cargo-Magazins.

Paper Girls (TV-Serie, USA 2022)
Regie: Georgi Banks-Davies, Mairzee Almas, Destiny Ekaragha, Karen Gaviola – Drehbuch: Stephany Folsom, Fola Goke-Pariola – Kamera: Zack Galler, Tarin Anderson – Darsteller: Fina Strazza, Camryn Jones, Sofia Rosinsky, Riley Lai Nelet, Kellee Stewart, Adina Porter – Schnitt: Robert Komatsu, Emily Greene, Ivan Victor, Jennifer Barbot – Streaming-Startdatum: 29.07.2022 – Anbieter & Verleih: Amazon Prime Video

Ekkehard Knörer, geboren 1971, in Würzburg, Austin (Texas) und Frankfurt (Oder) Deutsch, Englisch, Philosophie, Kulturwissenschaften studiert. Promoviert zur Theorie von Ingenium und Witz von Gracián bis Jean Paul. Von 1998 bis 2008 die Filmkritik-Website Jump Cut betrieben. Texte zu Film, Theater, Literatur für Perlentaucher, taz, Freitag, diverse andere Medien. Seit 2012 Redakteur, seit 2017 auch Mitherausgeber des Merkur. Ebenfalls Mitherausgeber des Filmmagazins Cargo.