Spätestens sei Heinrich Schliemann ist Archäologie eine Projektionsfläche für Sehnsüchte und Abenteuerlust. Wie bei kaum einer anderen akademischen Disziplin klaffen Realität und Wunschvorstellung auseinander. Wie unromantisch, strapaziös und letztlich auch prekär das Graben in der Vergangenheit ist, wissen vermutlich nur sie selbst – die Archäolog*innen. Und wir jetzt auch – denn die Kasseler Comickünstlerin und Archäologin Daniela Heller lässt uns in ihrem Comicdebüt „Pfostenloch“, das zugleich auch ihr Abschluss an der Kunsthochschule Kassel ist, am Alltag von jungen Archäolog*innen teilhaben. „Pfostenloch“ ist eine Geschichte über Freundschaft, Archäologie und das, was von Menschen übrig bleibt – in der Erde und in der Erinnerung. Und darüber, was Archäolog*innen suchen und finden. Kleiner Spoiler: Gold ist es nicht. Die clevere, mit verschmitztem Humor erzählte Graphic Novel hat die Jury des „Max und Moritz“-Preises so beeindruckt, dass sie im Juni 2022 dem Buch auf dem Comic-Salon Erlangen bereits vor Erscheinen den Preis als „bestes deutschsprachiges Debüt“ verliehen hat. „Die Inszenierung des isolierten Alltags dieser kleinen Truppe von Nachwuchsarchäolog*innen kurz vor oder nach Studienabschluss gelingt Daniela Heller überzeugend. ‚Pfostenloch‘ besticht durch die Beiläufigkeit, mit der sie die Generation Praktikum und ihre unsichere Zukunft auf eine Ausgrabungsstätte herunterbricht. Die Dialoge sind von bestechender Natürlichkeit, und ebenso ungekünstelt und mit subtilem Humor schildert Heller die kleinen Spannungen und Intrigen, Machtspiele und Eifersüchteleien, Träume und Ernüchterungen und setzt ihr Stück mit einem passenden, leichten und karikierenden Strich um.“ Im folgenden Presse-Interview spricht Daniela Heller über die Hintergründe ihres Debüts.
Liebe Daniela, danke schon mal, dass du dir für das Gespräch mit uns die Zeit nimmst. „Pfostenloch“ ist deine Abschlussarbeit an der Kunsthochschule Kassel, du bist aber auch studierte Archäologin und arbeitest viel bei archäologischen Grabungen und ähnlichen Projekten mit. Erzähl uns doch mal eingangs ein bisschen über deinen Werdegang. Wie kamst du vom Graben aufs Zeichnen und wieder zurück?
Ich habe immer gern gezeichnet und mir Geschichten ausgedacht, aber der Gedanke, das durch eine Ausbildung zu professionalisieren, kam mir erst relativ spät. Ich hatte mein Archäologie-Studium abgeschlossen und arbeitete auf Ausgrabungen. Bei einem Dänemarkurlaub fiel mir auf, dass dort die archäologischen Museen voll von Illustrationen waren, und die Museumsshops voll von schön illustrierten archäologischen Büchern. Ab da nahm so langsam die Idee Gestalt an, Archäologie und Zeichnung zu verbinden. Ich bewarb mich an ein paar Kunsthochschulen, vor allem für Studiengänge in Richtung Sachillustration, informative Illustration, Wissenschaftsillustration, das nennt sich überall anders. Die haben mich aber nicht genommen. An der Kunsthochschule Kassel, die mich schließlich aufnahm, ging ich in die Klasse für Illustration und Comic. Der Schwerpunkt unter Hendrik Dorgathen, Lea Heinrich und Aisha Franz lag auf dem Comic als grafischer Erzählform. Das war eigentlich überhaupt nicht das, was ich wollte, aber nach kurzem Kampf hab ich mich ergeben und ich bin sehr froh, dass es so gekommen ist.
Nach dem Abschluss brauchte ich einen Lohnjob, denn mit dem Zeichnen verdiene ich noch nicht so viel. Jetzt arbeite ich für eine kleine Grabungsfirma in der archäologischen Baubegleitung. Beide Bereiche auf die Reihe zu kriegen, fällt mir nicht leicht, aber es ist trotzdem schön, mit einem Job Geld verdienen zu können, der mir Spaß macht. Und es ist auch ein Ausgleich zur Arbeit am Schreibtisch: Ich kann draußen sein, körperlich arbeiten, mich bewegen. Ich bin auch gerne auf Baustellen, man sieht und lernt da viel. Und Inspiration gibt es dort auch jede Menge.
Warum hast du dir eine Comicerzählung als Abschlussprojekt ausgesucht? Welche Rolle spielte der Comic als Kunstform für dich während des Studiums? Oder begleitet dich der Comic schon länger? Und was bedeutet der Comic als Zeichnerin und Erzählerin für dich?
Ich würde sagen, dass mich Comic schon lange begleitet. Aber Comic ist ja ein weites Feld. Meine Brüder und ich haben als Kinder sehr viele Ehapa- und Carlsen-Comics gelesen, „Asterix“, „Lucky Luke“, „Buffalo Bill“, „Garfield“, „Tim und Struppi“, „Lustiges Taschenbuch“, „Dragon Ball“… Da ging es viel um Action, Humor, Heldenreise, Abenteuer, Gut gegen Böse. Ich fand das super. „Persepolis“ von Marjane Satrapi war dann, glaub ich, mein erster Berührungspunkt mit einem Comic, der ganz andere Schwerpunkte hatte: Autobiografisches, Coming-of-Age, aber auch teilweise Dokumentarisches und Wissensvermittlung. Und gleichzeitig eine Bildsprache, die ich bis dahin nicht kannte.
Ich habe aber relativ lange gebraucht, um diese Art des Erzählens und Zeichnens als etwas zu sehen, das ich auch machen kann. Ich bin mit dem diffusen Wunsch an die Kunsthochschule gekommen, dass man mir dort Zeichnen beibringt und hatte anfangs überhaupt keine Ambitionen in Richtung Comic. Als ich dann aber so weit war, wollte ich nichts anderes mehr machen.
An der Erzählform Comic mag ich, dass ich alles gleichzeitig sein kann: Drehbuchautorin, Regisseurin, Schauspielerin, Kamerafrau, Szenenbildnerin, Kostümbildnerin. Mein eigener kleiner Film auf Papier. Und was mir auch sehr gut gefällt, ist, dass man auch eine Textebene hineinbringen kann, ich schreibe gern Texte.
Kürzlich ist dein Debüt „Pfostenloch“ erschienen. Man könnte sagen, dass dein Comic deine beiden Lebenswelten, Archäologie und Illustration, zusammenführt. Wie kam es zu diesem Projekt? Warum wolltest du diese Geschichte erzählen?
Als ich das erste Mal einen Fuß auf eine Grabungsfläche setzte, wollte ich eine Geschichte darüber erzählen. Das war lange, bevor ich den Entschluss gefasst hatte, an eine Kunsthochschule zu gehen. Als ich dann an die Kunsthochschule kam, war es auch das erste, was ich probierte. Aber damals war ich einfach noch nicht so weit und musste erst mal Grundlagen lernen. Ich habe aber trotzdem immer an dem Wunsch festgehalten, Leuten etwas mit Bildern über eine Ausgrabung zu erzählen.
Dieser Raum hat mich total fasziniert, diese Mondlandschaft aus Löchern, Plastikplanen und Abraumbergen, abgegrenzt durch Bauzäune und Flatterband. Und Ausgrabungen sind auch ein Zwischenraum, zwischen verschiedenen Zeiten. Zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen den Vorlesungszeiten, zwischen Baustopp und Wiederaufnahme der Bautätigkeit. Es ist ein flüchtiger Raum, weil die meisten Grabungen an Orten stattfinden, die im Anschluss überbaut werden: Neubaugebiete, Kiesgruben, Stadtkerne, Straßen. Und auch der soziale Raum, der sich zwischen den Archäolog:innen während der Ausgrabung auftut, ist meist eher von kurzer Dauer. Und ich wollte immer diese Stimmung irgendwie einfangen. Es begann mit einem eher dokumentarischen Anspruch: einfach mal im übertragenen Sinn die Kamera draufhalten und laufen lassen, gar nichts groß erklären. Und daraus hat sich nach und nach eine Geschichte entwickelt, die schließlich von selbst in Richtung der Themen ging, die bei Archäologen immer wieder aufkommen: Arbeitsbedingungen und Zukunftsangst.
„Pfostenloch“ fängt mit einer vermutlich recht alltäglichen Begegnung an – ein Spaziergänger verwickelt die namenlose Protagonistin während ihrer Arbeit auf der Ausgrabung ins Gespräch und erzählt ihr, dass er selbst als Kind auch gerne Archäologe geworden wäre. Seit Schliemann ist Archäologie eine Projektionsfläche für Sehnsüchte und Abenteuerlust, wie bei kaum einer anderen Profession dürften Realität und Wunschvorstellung auseinandergehen. Wie nimmst du selbst die Außenwahrnehmung auf deinen Beruf wahr? War der Wunsch, diese Vorstellungen zu „entzaubern“, auch ein Grund für „Pfostenloch“?
Ja, absolut. Leute lieben Archäologie. Aber sie lieben nicht so sehr die Realität der Archäologie, sondern eher ihre persönliche Vorstellung davon, ihre Projektion darauf. Das Arbeitsfeld „Archäologie“ hat ganz unterschiedliche Bereiche, auch abseits von Ausgrabungen, beispielsweise an der Uni, in Museen, Behörden und Forschungsinstitutionen, und alle weisen auf ihre Art teilweise prekäre Züge auf wie viele andere Branchen auch: Befristung ist ein echt großes Problem und auch die Bezahlung.
Es gibt aber auch einen ziemlichen Bruch bei der Frage, was eigentlich Gegenstand der Archäologie ist. Am meisten wollte ich in „Pfostenloch“ die Frage beantworten, wonach Archäolog:innen eigentlich suchen. Weil das nämlich das größte Missverständnis überhaupt ist in der öffentlichen Wahrnehmung: Leute denken, Archäolog:innen suchen Gold, einen Schatz oder manchmal auch Dinosaurier, was vielleicht die paläontologische Entsprechung eines Schatzes ist. Aber Archäolog:innen suchen kein Gold. Archäolog:innen suchen Überreste menschlichen Lebens, Siedlungen, Gräber, Gerätschaften, Werkzeuge und rekonstruieren daraus, wie Leute im Laufe der Menschheitsgeschichte gelebt haben. Aber die Gold-Erzählung, die Suche-nach-dem-Schatz-Erzählung ist so stark, so eine Art Meistererzählung, die stellt einfach alles, was ich über das echte Ziel der Archäologie erzählen könnte, total in den Schatten. Und daher hab ich versucht, die Frage auf einer anderen, eher persönlichen Ebene zu beantworten: Was suchen Archäolog:innen als Individuen, und was finden sie?
Was ein „Pfostenloch“ ist, wird im Comic hinreichend erklärt. Aber für diejenigen, die erst mal nur das Interview lesen und deine Graphic Novel noch nicht kennen: Könntest du uns noch mal kurz erläutern, was hinter dem kuriosen Begriff steckt und in welcher Hinsicht das für deine Erzählung relevant ist?
Mit dem Begriff „Pfostenloch“ werden in der Archäologie Verfärbungen bezeichnet, die von tragenden Holzpfosten von Gebäuden in der Erde hinterlassen werden. Man kann sie im Boden erkennen und aus ihnen Hausgrundrisse rekonstruieren, auch noch Jahrtausende nachdem das Holz schon längst vergangen ist. Sie sind wie Markierungspunkte, wie etwas gewesen sein könnte. Nicht-Archäolog:innen nehmen den Begriff gerne als vulgär oder als Anspielung wahr, aber das ist eben ein Terminus technicus.
Pfostenlöcher sind an sich sehr unspektakulär und unmondän – nicht das, was man sich unter dem vorstellt, was Archäolog:innen so ausgraben (siehe Gold). Aber sie sind einer der grundlegenden Befunde in der Archäologie. Sie sind irgendwie das Gegenteil von Gold. Und das war mir wichtig, Stichwort Entzauberung. Aber mir hat auch das Bild gefallen, dass ein Loch ja eigentlich die Abwesenheit von etwas ist, das Entmaterialisierte. Eine Stelle, wo vielleicht mal etwas war, aber nun nicht mehr. Das ist auch Teil der Ausgrabungsmetapher, es geht um Spuren, Negativabdrücke von Menschen, in der Erde und in der Erinnerung. Sie verwandeln sich mit der Zeit und werden zu etwas Anderem, etwas Neuem.
In deiner Graphic Novel erzählst du vom Alltag während einer Ausgrabung, die ein bisschen wirkt wie eine Mischung aus Klassenfahrt, Pfadfinderlager, Musikfestival und der Büroblödelei aus „The Office“. Was war dir wichtig in der Darstellung dieses kleinen Arbeitsmikrokosmos und der Beziehungen zwischen deinen Figuren?
Die Ausgrabung in dem Comic ist von diversen Grabungen inspiriert, auf denen ich als Studierende gearbeitet habe. Das waren sogenannte Lehrgrabungen, wo Studierende aus verschiedenen Unis in den Semesterferien Grabungserfahrung sammeln sollen. Das heißt, es ist durchaus nicht so, dass Leute auf Ausgrabungen immer in Zelten übernachten, das war halt in diesen speziellen Fällen so. Und durch dieses pausenlose Aufeinanderhocken von früh bis spät ergeben sich bestimmte Dynamiken. Dann hat man sich irgendwann alles erzählt, was es zu erzählen gibt, fängt mit dem Dummschwätzen an und schmeißt sich gegenseitig immer wieder dieselben Bälle zu. Daraus entwickeln sich manchmal sehr skurrile, absurde, witzige Situationen und Gespräche. Aber dahinter stehen trotzdem Leute mit Sorgen und Nöten und Zukunftsängsten. Oft wird das durch Zynismus überspielt. Dazu kommen unterschiedliche Hintergründe, Erfahrungshorizonte, politische Überzeugungen, auch Altersunterschiede, mariniert in Alkohol und Sonnenstich. Also eigentlich alle Zutaten für Liebe, Intrige und Drama.
Auch der Moment kurz vor Ende des Studiums hat mich interessiert, wenn diese Fragen aus einer unbestimmten Zukunft plötzlich in unmittelbar greifbare Nähe rücken: Was mach ich jetzt mit dem Studium, wie geht es weiter? Das gilt ja für die allermeisten Studiengänge, nicht nur für die Archäologie. Und es ist durchaus auch so, dass dadurch manchmal Konkurrenzsituationen entstehen, auch unter Freund*innen.
„Pfostenloch“ ist zugleich eine Reflexion über Sterblichkeit, über Verlust und der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Kannst du uns etwas über diesen Aspekt deiner Erzählung verraten?
Eine Grundlage meiner Geschichte ist diese Metapher der Ausgrabung, die sowohl in der Erde als auch im Kopf und in der Erinnerung der Erzählerin stattfindet. Archäologische Arbeiten haben oft etwas Repetitives, dabei schweifen dann gern die Gedanken ab und man kommt ins Nachdenken. Gerade wenn man zum Beispiel an Bestattungen, an Gräbern arbeitet, denkt man natürlich auch über den Tod nach. Skelette sind nur Teile von Menschen, aber sie sehen so sehr wie Menschen aus, dass ich fast nicht anders kann, als eine Art inneren Dialog mit ihnen zu führen und eine Beziehung einzugehen, also Dinge auf sie zu projizieren. Und die Erzählerin projiziert die Erinnerungen an ihren verstorbenen Vater auf eine Bestattung, die sie ausgräbt.
Diese Ebene war mir auch wichtig für die Beziehung zwischen den beiden Protagonistinnen: Einerseits geraten sie in Konkurrenz miteinander, in einen Konflikt. Andererseits gibt es da etwas, das sie verbindet: Beide trauern um jemanden, und beide müssen loslassen. Diese Trauer, die beide Protagonistinnen beständig zu verdrängen versuchen, wird im Comic auch durch ein Symbol verkörpert. Es erscheint immer wieder, am Rand der Grabungsfläche, am Rand der Wahrnehmung, und am Ende ist eine Konfrontation unvermeidlich. Aber sie ist dann irgendwie heilsam.
Last but not least: Was ist dein „Simpsons“-Zitat für die Ewigkeit?
Schwierige Frage, auf jeden Fall. Ich glaube, ich nehme eins von Lisa, ich liebe Lisa: „Well, I‘m going to be a famous jazz musician. I‘ve got it all figured out. I‘ll be unappreciated in my own country, but my gutsy blues stylings will electrify the French. I‘ll avoid the horrors of drug abuse, but I do plan to have several torrid love affairs, and I may or may not die young. I haven‘t decided.“