Schwermut, Pulp und das ultimative Schwarz-Weiß

Héctor German Oesterhelds und Alberto Breccias Meisterwerk „Mort Cinder“ ist in einer neuen Gesamtausgabe erschienen.

Mort (französisch) Cinder (englisch), Tod und Asche: Das hat schon mal eine ganz andere Gravitas als Dr. Doom, Killer Croc, Venom, Dr. Evil oder irgendein anderes sprechendes Alias, durch das etwa im Superheldencomic finstere Figuren auf verspielte Art ihre charakterliche Disposition verraten. Einen hoffnungsloseren und sterblichkeitsschwermütigeren Namen als die Titelfigur von Héctor German Oesterhelds (Szenarist) und Alberto Breccias (Zeichner) zwischen 1962 und 1964 erstmals in Fortsetzungen veröffentlichter Episoden-Erzählung „Mort Cinder“ kann man kaum tragen.

In ihm steckt bereits eine Menge des erhabenen Ernstes, mit dem in diesem kanonischen Klassiker aus Argentinien sowohl grafisch als auch inhaltlich zu Werke gegangen wird – allerdings womöglich auch eines der wenigen Ironie-Signale, die in diesem Comic (wenn überhaupt mal) zu entdecken sind. Zwar muss Mort Cinder immer wieder den Tod erleiden, ist jedoch auf Dauer unsterblich und erhebt sich nach jedem Dahinscheiden wieder aus seinem Grab. Die Gründe dafür lassen Oesterheld und Breccia offen; ebenso bleibt die Frage unbeantwortet, ob Morts sämtliche Jahrtausende der Menschheit begleitende Existenz als Wiedergänger endgültig zu beenden wäre, indem man ihn zu Asche verbrennt.

Jedenfalls findet sich der Londoner Antiquitätenhändler Ezra Winston nach einem mit unheilvollen Omen hochschwangeren Intro, das mit den Worten „Ist die Vergangenheit so tot, wie wir glauben?“ endet, an Morts jüngster Grabstätte wieder, dorthin gelockt von seltsamen Zeichen und verfolgt von somnambul dahinstolpernden Männern mit „Augen wie Blei“. Nachdem Mort Cinder seinen Sargdeckel aufgestoßen hat und endlich aufs Neue in der Lage ist, zu atmen und die Sterne zu sehen, laufen Oesterheld und Breccia sich zunächst buchstäblich warm, indem sie ihre Protagonisten in der ersten und umfangreichsten Episode auf eine mit viel Mondschein, Nebel, Baumskeletten und ungastlichem Gelände horrorfilmhaft finster gestimmte, erfolglose Flucht vor den Bleiaugen schicken. Mort stirbt abermals und erlebt dank Ezras Hilfe eine abermalige Auferstehung, bis beide schließlich auf den Operationstischen von Professor Angus landen. Dieser Doktor-Mabuse-Pastiche ist das „Multihirn“ hinter den zombieartigen Männern mit den Bleiaugen, kann mittels hirnchirurgischer Eingriffe über die Kopfinhalte anderer Menschen verfügen und hat es dementsprechend besonders auf das überreich gefüllte Cerebrum Mort Cinders abgesehen.

Nachdem Ezra und Mort sich befreit und Angus auf höchst humanitäre Art das Handwerk gelegt haben, unterbreitet der Unsterbliche dem Antiquar das Angebot, ihn als zwangsläufig unüberbietbar kompetenten Assistenten einzustellen, und ab hier nimmt der Comic endgültig Fahrt auf. An Morts Seite reist Ezra durch die Jahrhunderte und teilt quer durch die Menschheitsgeschichte aktiv dessen Vergangenheit, in der sich Fiktion bzw. die Erzählkunst Oesterhelds, einschneidende historische oder quasi-mythologische Ereignisse (Erster Weltkrieg, Schlacht bei den Thermopylen, Turmbau zu Babel), empirische Akteure (der spartanische Soldat Dienekes, dem Herodot das berühmte Zitat vom Kampf im Schatten zuschreibt), knallharter Realismus, Horror-Motive und vor allem Science-Fiction-Elemente (die babylonische Sprachverwirrung als Werk von Außerirdischen, um einen zu großen Evolutionssprung der Menschen zu verhindern) miteinander mischen. Der Grundton ist, wie bereits angedeutet, in seinem düster-verzweifelten Humanismus „streng und betörend“ (S. 12), wobei die Pulp- und Genre-Schlagseiten dem überwiegend konsequenten Ernst dieser im besten Sinn abenteuerlichen Langerzählung über die Conditio humana einen ganz eigenen, fast lyrisch-symbolistischen, alternativweltgeschichtlichen Zauber verpassen.

Eigentlich werden Team- von Autoren-Comics ja gerne getrennt, aber mit „Mort Cinder“ gehen Szenario und Grafik eine wahrhafte Symbiose ein, die nicht zuletzt den starken Verdacht nahelegt, der Terminus „Graphic Novel“ sei ungefähr vierzig Jahre zu spät erfunden worden. In den 1960er- und 1970er-Jahren passierten die wirklich aufregenden und bahnbrechenden Dinge wahrscheinlich überwiegend im außeramerikanischen Comic, verantwortet von im nachdrücklichen Sinn erwachsenen Menschen, denen die prinzipielle Dignität des Mediums nicht im Geringsten fraglich erschien.

Natürlich wurde auch „Mort Cinder“ ursprünglich in Fortsetzungen im argentinischen „Misterix“-Magazin veröffentlicht, was die ein oder andere Redundanz nach sich zieht; da das ein oder andere Panel eher szenisch-illustrativ funktioniert, fehlt es mitunter an jener Dynamik, die für jüngere Comics im Zweifel selbstverständlich ist; Frauenfiguren sucht man abgesehen von einer raren Passantin im Hintergrund vergebens. Doch all das verleiht „Mort Cinder“ in summa keine anachronistische, sondern eine vielmehr wertvoll-antiquarische Anmutung. Vielleicht hat es ein paar ebenbürtige, aber nie einen besseren Zeichner gegeben als Alberto Breccia, der mit seiner schier unendlichen Technik-Vielfalt und der Mixtur aus realistischen Details, räumlicher wie anatomischer Präzision, dezent karikaturesker Überzeichnung, überirdischen Lichteffekten, expressiven Schraffuren und einer mitunter erstaunlich radikalen Kunst des Weglassens nicht nur ausschöpft, sondern überhaupt erst definiert, was in einem Schwarz-Weiß-Comic möglich ist. An gewissen Stellen hat Breccia etwa seine schwarze „Farbe“ (Gouache? Kreide?) mit den Fingerkuppen bearbeitet, und die Größe der Abdrücke weist darauf hin, in welchem Format die Zeichnungen erstellt wurden. Tatsächlich sind die Originalseiten mit 45 mal 29 Zentimetern ein gutes Stückchen größer als die Reproduktion, und wenngleich man sich sehr lange in solchen Paneldetails verlieren kann, schieben sich die Form und das Experimentelle nie aufdringlich vor die Erzähl- und Darstellungsabsicht. In der prachtvollen neuen Gesamtausgabe des avant-verlags, für die (soweit vorliegend) die Originalseiten bzw. bestmöglichen Quellen neu gescannt wurden, werden erstmals im deutschsprachigen Raum sämtliche Nuancen sichtbar.

Und obwohl es am Ende, wenn die Spartaner gefallen sind, heißt: „Die Moiren [Schicksalsgöttinnen der griechischen Mythologie] lachen, denn ihr Faden ist fast zu Ende gesponnen …“ (S. 228), wird doch noch ab und an ein bisschen mit den Augen gezwinkert: wenn Alberto Breccia seinem Antiquitätenhändler Ezra das eigene (gealterte) Antlitz oder Mort die ungefähren Züge von Boris Karloff (für gewöhnlich als „Karloff der Unheimliche“ gehandelt) verpasst. Tatsächlich hat sich Breccia seinen Freund und Assistenten Horacio Lalia zum Modell genommen, aber die Karloff-Assoziation ist eine durchaus statthafte – schließlich handelt es sich bei Hugo Pratt, einem der wichtigsten Kollegen von Breccia, der etliche Szenarien von Héctor German Oesterheld ins Bild setzte und wenige Jahre nach „Mort Cinder“ mit dem ersten Auftritt Corto Malteses in der „Südseeballade“ (1967) eine ähnlich ikonische Figur wie den ewig Lebenden in ganz anderer, aber ähnlich spektakulärer Grafik präsentierte, um den Großneffen von William Henry Pratt, besser bekannt unter dem Schauspieler-Alias Boris Karloff.

Diese Kritik erschien zuerst am 23.01.2024 auf: DieZukunft.de

Hier und hier finden sich weitere Kritiken zu „Mort Cinder“.

Hector G. Oesterheld (Autor), Alberto Breccia (Zeichner): Mort Cinder Gesamtausgabe • Aus dem Spanischen von Myriam Alfano • Avant-Verlag, Berlin 2023 • 260 Seiten • Hardcover • 40,00 Euro

Sven-Eric Wehmeyer ist Übersetzer, freier Redakteur, Autor und Comic-Experte. Für Random House hat er u. a. mehrere Romane Stephen Kings und Richard Laymons ins Deutsche übertragen.