Aus der Pressemitteilung:
Gestern wurde der Max und Moritz-Preis 2022 in neun Kategorien vergeben:
Beste deutschsprachige Comic-Künstlerin: Birgit Weyhe
Bester deutschsprachiger Comic: „Work-Life-Balance“ von Aisha Franz
Bester internationaler Comic: „Dragman“ von Steven Appleby
Bester Sachcomic: „Im Spiegelsaal“ von Liv Strömquist
Bester Comic für Kinder: „Trip mit Tropf“ von Josephine Mark
Bestes deutschsprachiges Comic-Debüt: „Melek + ich“ von Lina Ehrentraut | „Pfostenloch“ von Daniela Heller | „Who’s the Scatman?” von Jeff Chi
Spezialpreis der Jury: Alexander Braun
Publikumspreis: „Lisa und Lio“ von Daniela Schreiter
Sonderpreis für ein herausragendes Lebenswerk: Naoki Urasawa
Am Abend des 17. Juni wurden im Erlanger Markgrafentheater die Max und Moritz-Preise 2022 vergeben. Der Max und Moritz-Preis, von der Stadt Erlangen im Rahmen des alle zwei Jahre stattfindenden Internationalen Comic-Salons verliehen, gilt als wichtigste Auszeichnung für Comic-Kunst und grafische Literatur im deutschsprachigen Raum. Im Vorfeld der Preisverleihung war eine Liste mit 25 von der Jury und 3 vom Publikum nominierten Titel bekannt gegeben worden.
Der Preis für den Besten Sachcomic geht an „Im Spiegelsaal“ von Liv Strömquist (Übersetzung: Katharina Erben, avant-verlag), als Bester deutschsprachiger Comic wird „Work-Life-Balance“ von Aisha Franz (Reprodukt) ausgezeichnet, der Beste internationale Comic ist „Dragman“ von Steven Appleby (Übersetzung: Ruth Keen, Schaltzeit Verlag). Mit besonderer Spannung wird erwartet, wer Beste*r deutschsprachige*r Comic-Künstler*in (dotiert mit 7.500,– Euro) wird. In dieser Kategorie wurde Birgit Weyhe (aktuell: „Rude Girl“, avant-verlag) ausgezeichnet. Der Max und Moritz-Preis für den Besten Comic für Kinder geht in diesem Jahr an „Trip mit Tropf“ von Josephine Mark (Kibitz Verlag), den Sonderpreis für das Beste deutschsprachige Comic-Debüt (dotiert mit jeweils 1.000,– Euro) erhalten in diesem Jahr gleich drei Titel: „Melek + ich“ von Lina Ehrentraut (Edition Moderne), „Pfostenloch“ von Daniela Heller (Kunsthochschule Kassel / avant-verlag) sowie „Who’s the Scatman?” von Jeff Chi (Zwerchfell). Zum siebten Mal wurde in diesem Jahr ein Max und Moritz-Publikumspreis ausgelobt, für den im Internet nominiert und abgestimmt werden konnte. Sieger in dieser Kategorie ist „Lisa und Lio“ von Daniela Schreiter (Panini Comics). Mit dem Sonderpreis für ein herausragendes Lebenswerk wurde – wie schon im Vorfeld der Preisverleihung bekannt gegeben – der japanische Künstler Naoki Urasawa geehrt. Mit dem Spezialpreis der Jury wurde der Kurator und Publizist Alexander Braun ausgezeichnet.
Die Max und Moritz-Gala wurde von Hella von Sinnen und dem Schweizer Journalisten und Comic-Experten Christian Gasser moderiert. Dr. Florian Janik, Oberbürgermeister der Stadt Erlangen, überreichte die Auszeichnungen in den verschiedenen Kategorien.
Der Jury für den Max und Moritz-Preis gehören in diesem Jahr an: Christian Gasser (Autor, Dozent an der Hochschule Luzern – Design & Kunst), Andrea Heinze (Journalistin, Berlin), Andreas C. Knigge (Journalist und Publizist, Hamburg), Katinka Kornacker (Geschäftsführerin COMIX – Comicbuchhandlung Hannover), Isabel Kreitz (Comic-Zeichnerin, Hamburg), Christine Vogt (Leiterin der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen) und Bodo Birk (Leiter des Internationalen Comic-Salons Erlangen).
Nachfolgend finden Sie die Laudationes zu den Max und Moritz-Preisträger*innen 2022:
Beste deutschsprachige Comic-Künstlerin
Birgit Weyhe
Allein wie Birgit Weyhe Vögel zeichnet, ist eine Kunst für sich: Manche schwingen sich auf in die Luft, als wären sie die Verkörperung der Freiheit. Andere kauern am Boden, als hätten sie ihr Potential noch nicht entdeckt. Und wieder andere sind so zerrupft und zerrissen, dass klar ist: diesem Wesen wurde Gewalt angetan.
Durch Metaphern wie diese werden die Comics von Birgit Weyhe ungeheuer dicht. Und sie sind immer menschlich. Denn Birgit Weyhe interessiert, was Menschen umtreibt, wie sie wurden was sie sind – und zwar ganz gleich, aus welcher Kultur sie kommen, welche Hautfarbe sie haben oder wie alt sie sind. Das ist einzigartig in der deutschen Comiclandschaft.
Es geht um die Lebens- und Arbeitsbedingungen von mosambikanischen Vertragsarbeiter*innen in der DDR oder um Birgit Weyhes eigene Familiengeschichte. In ihrem aktuellen Comic „Rude Girl“ erzählt sie die Geschichte von Priscilla Layne, einer schwarzen US-Amerikanerin aus einfachen Verhältnissen, die Germanistik-Professorin wird. Birgit Weyhe recherchiert diese Biografie mit einer Neugier, die schon ihre vorangegangenen Arbeiten stark gemacht haben. Und sie findet dafür wie üblich eine eigene, ausgefeilte Dramaturgie. So zeichnet sie Menschen mit all ihren Facetten und bedient eben keine Stereotype.
Birgit Weyhe wurde 1969 in München geboren, verbrachte ihre Kindheit in Ostafrika und ist erst spät zum Comic gekommen. An der Hamburger Universität für Angewandte Wissenschaften begann sie 2002 ihr Studium der Illustration – dass sie sich während des Studiums auch für die freie Kunst interessiert, merkt man ihren Comics bis heute an.
Birgit Weyhe entwirft Muster, die aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten zu kommen scheinen – und die in ihren jüngeren Comics immer mehr zu abstrakten Strukturen werden, etwa zu dunklen Wolken, die sie über ihre Protagonisten legt. So kombiniert Birgit Weyhe Text und Bild in ihren Comics, dass daraus universelle Stoffe werden.
Andrea Heinze
Bester deutschsprachiger Comic
„Work-Life-Balance“ von Aisha Franz (Reprodukt)
Willkommen in der unschönen neuen Arbeitswelt von schuhfreien Offices, in denen kreativ geschuftet, aber schlecht verdient wird, von grässlich-schicken Kunstgalerien, Pizzakurieren und trendigen Therapien (auch online angeboten)! Vier typische Vertreter*innen dieser Arbeitswelt ringen um ihre Work-Life-Balance – und finden nur Frustration und Prekariat: Die Keramikerin Anita ist eine verhinderte Künstlerin; die sexuell hyperaktive Start-Up-Angestellte Sandra zelebriert ihre Banalität in vielgeschmähten MeTube-Videos, das IT-Genie Rex liefert Pizzen aus. Der gemeinsame Bezugspunkt ist eine Therapeutin von zweifelhafter Sensibilität. Ihre Geschichten kreuzen, verknäueln und entwirren sich, bis garantiert alles aus der Balance gepurzelt ist. Klischees? Ja, Klischees, und wie! Mit satirischer Verve überzeichnet und seziert Aisha Franz diese Stereotypen. Ihre Erzählweise ist rasant, die Zeichnungen sind stilisiert, dynamisch, voll schräger Details und wunderbar koloriert. „Work-Life-Balance“ ist ein mitreißendes Vergnügen, in dem Zeitkritik, Satire und die Lust am Erzählen perfekt ausbalanciert sind.
Bester internationaler Comic
„Dragman“ von Steven Appleby. Übersetzung: Ruth Keen (Schaltzeit Verlag)
August Crimp alias Dragman ist ein Superheld der sehr ungewöhnlichen Sorte. Vordergründig ist er ein biederer Ehemann und Vater, doch hat er eine geheime Identität: Er liebt Frauenkleider, und Frauenkleider verleihen ihm Flügel und Superkräfte – in Frauenkleidern wird August Crimp zu Dragman. Allerdings hat er seiner Gattin zuliebe dieser heimlichen Existenz abgeschworen. Als aber ein Serienmörder Transfrauen meuchelt und ihre Seelen stiehlt, muss Crimp wieder zu Dragman werden. Dieser doppelte Konflikt ist der Auslöser einer fulminanten Story, in der Steven Appleby munter Genres mischt und Plots verknüpft: Da gibt es die Superheld*innenparodie; da gibt es den Serienkillerthriller; da gibt es die Science-Fiction um einen Wissenschaftler, der die menschliche Seele entdeckt und kommerzialisiert; da gibt es das romantische Beziehungsdrama. Das alles ist unterlegt mit Satire, philosophischem Sinnieren und Gesellschaftskritik und mit viel Schwung umgesetzt in liebevoll karikierenden Zeichnungen. „Dragman“ ist ein grandioser Superheldencomic jenseits aller Klischees und Stereotypen.
Bester Sachcomic
„Im Spiegelsaal“ von Liv Strömquist. Übersetzung: Katharina Erben (avant-verlag)
Wer hat sich nicht schon gefragt, warum so viele Menschen so viel Zeit mit dem Betrachten von, zum Beispiel, Kylie Jenner verbringen. Warum gilt Kylie Jenner als so begehrens- und nachahmenswert, welcher Zusammenhang besteht zwischen ihrem Aussehen und ihrem Reichtum? Schönheit – das ist das Thema, dem sich die schwedische Comic-Essayistin Liv Strömquist in „Im Spiegelsaal“ aus verschiedenen Perspektiven annähert: Schönheit, Fremd- und Selbstbilder, der menschliche Nachahmungstrieb, Narzissmus, die Ökonomie des Begehrens, das Altern – und wie sich die Schönheitsideale und ihre Bedeutungen im Lauf der Jahrhunderte entwickelt haben – bis zum heutigen Terror der Bilder in den sozialen Medien. Klug, tiefsinnig, engagiert, feministisch und sehr komisch: Liv Strömquists Comic-Essays sind wissenschaftlich fundierte, gezeichnete Stand-Up-Comedy mit Punk-Einschlag, beziehungsweise kulturwissenschaftliche Essays mit scharfem Humor, die sowohl aufklären, informieren als auch prächtig unterhalten und mit verblüffenden Erkenntnissen und Zusammenhängen aufwarten.
Bester Comic für Kinder und Jugendliche
„Trip mit Tropf“ von Josephine Mark (Kibitz Verlag)
Der Zufall und ein bisschen Glück helfen, dass der Wolfkodex den Wolf und das Kaninchen zusammenschweißt. Und so beginnt dieser wahnwitzige Roadtrip der beiden, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Trotz der Flucht vor dem Jäger kümmert sich der Wolf liebevoll um seinen kranken Begleiter und versorgt ihn fürsorglich mit seinen lebenswichtigen Infusionen. Der Kodex befiehlt es schließlich, und der steht außer Frage! Mit schrägem Humor und glanzvollem Charme lässt uns Josephine Mark durch Autodiebstahl, Kneipenschlägereien, finstere Motels und Bärenhöhlen, meterlange Medikamentenpläne und eisigkalte Nächte mitbangen, ob die Zwei es schaffen werden, alle Widrigkeiten auszutricksen. Und um es schlussendlich vielleicht doch zu einer Freundschaft kommen zu lassen? „Trip mit Tropf“ möchte uns zeigen, wie warmherzig und behutsam und zeitgleich höchst amüsant mit dem schwierigen Thema Krankheit umgegangen werden kann. Und schafft es mit Bravour!
Bestes deutschsprachiges Comic-Debüt
„Melek + ich“ von Lina Ehrentraut (Edition Moderne)
Selten wurde ein Debüt vorgelegt, das so lebendig und bei aller Unfertigkeit so stark ist, wie „Melek + ich“ von Lina Ehrentraut. Die Wissenschaftlerin Nici hat eine Maschine gebaut, mit deren Hilfe man durch die Dimensionen reisen kann. Nici schafft dafür ein Alter Ego und nennt das Melek. Die erste Reise führt die Wissenschaftlerin zu sich selbst: Melek trifft Nici – die im Paralleluniversum das komplette Gegenteil der ursprünglichen Nici ist: nämlich unordentlich und verpeilt. Die Wissenschaftlerin wird eine Affäre mit ihrem Alter Ego eingehen, bei der es funkelt und kracht. Das ist krude. Und das macht nichts, denn Lina Ehrentraut zeichnet die Emotionen mit ihren rüden schwarzen Strichen so klar, dass Melek und Nici wie offene Bücher wirken. Lesbische Beziehungen sind in den Comics von Lina Ehrentraut vorherrschend und so normal, dass kein Wort darüber verloren wird. Sex zeichnet sie so explizit, dass einzelne Seiten fast pornografisch wirken. Denn Lina Ehrentraut will, dass Vergnügen in seiner ganzen Vielfältigkeit sichtbar ist. Und dann mischt sie auch noch knallbunte Malereien zwischen ihre schwarz-weiß gezeichneten Comics – abstrakte Farbexplosionen oder Menschen, die schwimmen, singen, küssen oder Sex haben. Das ist stark und wirkt, als wären die Protagonist*innen auf einem Endorphin-Trip.
„Pfostenloch“ von Daniela Heller (Kunsthochschule Kassel / avant-verlag)
Bei Regen und Hitze, bewaffnet mit kleinen Schaufeln, Rechen und Pinseln sitzen oder knien sie in ihren Löchern, die jungen Archäolog*innen. Die Träume sind groß, vergleichsweise bescheiden jedoch die tatsächliche Ausbeute. Die Ausgrabungsstätte, die die Bühne von „Pfostenloch“ bildet, Daniela Hellers Abschlussarbeit an der Kunsthochschule Kassel, ist realistisch und glaubhaft beschrieben. Die Zelte sind eng, die Mahlzeiten rudimentär, die Duschen weit entfernt. Die Inszenierung des isolierten Alltags dieser kleinen Truppe von Nachwuchsarchäolog*innen kurz vor oder nach Studienabschluss gelingt Daniela Heller überzeugend. „Pfostenloch“ besticht durch die Beiläufigkeit, mit der sie die Generation Praktikum und ihre unsichere Zukunft auf eine Ausgrabungsstätte herunterbricht. Die Dialoge sind von bestechender Natürlichkeit, und ebenso ungekünstelt und mit subtilem Humor schildert Heller die kleinen Spannungen und Intrigen, Machtspiele und Eifersüchteleien, Träume und Ernüchterungen und setzt ihr Stück mit einem passenden, leichten und karikierenden Strich um.
„Who’s the Scatman?“ von Jeff Chi (Zwerchfell)
Selten wurde ein Debüt vorgelegt, das so lebendig und bei aller Unfertigkeit so stark ist, wie „Melek + ich“ von Lina Ehrentraut. Die Wissenschaftlerin Nici hat eine Maschine gebaut, mit deren Hilfe man durch die Dimensionen reisen kann. Nici schafft dafür ein Alter Ego und nennt das Melek. Die erste Reise führt die Wissenschaftlerin zu sich selbst: Melek trifft Nici – die im Paralleluniversum das komplette Gegenteil der ursprünglichen Nici ist: nämlich unordentlich und verpeilt. Die Wissenschaftlerin wird eine Affäre mit ihrem Alter Ego eingehen, bei der es funkelt und kracht. Das ist krude. Und das macht nichts, denn Lina Ehrentraut zeichnet die Emotionen mit ihren rüden schwarzen Strichen so klar, dass Melek und Nici wie offene Bücher wirken. Lesbische Beziehungen sind in den Comics von Lina Ehrentraut vorherrschend und so normal, dass kein Wort darüber verloren wird. Sex zeichnet sie so explizit, dass einzelne Seiten fast pornografisch wirken. Denn Lina Ehrentraut will, dass Vergnügen in seiner ganzen Vielfältigkeit sichtbar ist. Und dann mischt sie auch noch knallbunte Malereien zwischen ihre schwarz-weiß gezeichneten Comics – abstrakte Farbexplosionen oder Menschen, die schwimmen, singen, küssen oder Sex haben. Das ist stark und wirkt, als wären die Protagonist*innen auf einem Endorphin-Trip.
Spezialpreis der Jury
Alexander Braun
Es ist atemberaubend, wie Alexander Braun in seinen Büchern und Ausstellungen Klassiker der Comicgeschichte in den Kontext der bildenden Kunst rückt: Die staksenden Betten mit den ellenlangen Beinen, in denen sich der kleine Nemo von Winsor McCay durch seine Träume bewegt, haben eine verblüffende Ähnlichkeit mit staksenden Tieren auf Salvador Dalís Gemälden. Ähnlich wie bei Magritte, schweben Menschen auch durch Winsor McCays Bildwelten. Die Zeichnungen von Winsor McCay sind rund 40 Jahre vor den Arbeiten von Dalí oder Magritte entstanden.
Alexander Braun zeigt, wie Comickünstler*innen Vorreiter für Kunstrichtungen wie den Surrealismus waren. Und er zeigt, wie Comickünstler*innen in der Tradition der bildenden Kunst stehen, etwa wenn er Darstellungen aus Horror-Comics mit denen des Barockmalers Caravaggio vergleicht. Das Besondere daran: durch den Vergleich mit der bildenden Kunst legitimiert Alexander Braun den Comic nicht, sondern zeigt ihn als gleichberechtigt unter den Künsten.
Alexander Braun wurde 1966 in Dortmund geboren. Er ist bildender Künstler, Kunsthistoriker, Comicsammler. Und er ist ungeheuer sorgfältig, wenn es darum geht, die Geschichte des Comics in all ihren Facetten zu ergründen. Auf diese Weise legt er immer wieder Standartwerke vor – und wurde dafür als einziger Deutscher gleich zwei Mal mit dem renommierten Eisner-Award ausgezeichnet.
In seiner Arbeit über die Comics von Will Eisner zeigt er nicht nur, wie seine jüdische Herkunft und das Milieu der New Yorker Mietskasernen seine Arbeit beeinflusst haben, sondern gräbt auch Comics aus, die Will Eisner jahrelang als Brotjob für die US-Armee gezeichnet hat.
Alexander Braun ist ein großartiger Analytiker, der in seinen Büchern und Ausstellungen immer wieder zeigt, wie Lebensumstände, Persönlichkeit und Werk zusammenhängen. Auf diese Weise verfasst er maßgebliche Werke der Comicgeschichte und eröffnet neue Perspektiven auf die Kulturgeschichte, die weit über die Comicszene hinaus relevant sind und wahrgenommen werden.
Andrea Heinze
Sonderpreis für ein herausragendes Lebenswerk
Naoki Urasawa – Fiktionen, Fakten und Verschwörungen
Naoki Urasawa ist ein begnadeter Erzähler, der seine Geschichten oft an relevante gesellschaftliche, politische und zeitgeschichtliche Themen anlehnt – und diese realistische Grundlage immer auch um historische Spekulationen und um eine fantastische, übernatürliche Ebene überhöht. Für sein umfangreiches Werk erhält Naoki Urasawa 2022 den Sonderpreis für ein herausragendes Lebenswerk.
„Monster“, „20th Century Boys“, „Pluto“, „Billy Bat“ – die Bibliografie von Naoki Urasawa liest sich wie eine Liste der besten, rasantesten und erfolgreichsten Manga-Epen der letzten Jahrzehnte. Nichts wies auf diese Karriere hin, als der 1960 geborene Naoki Urasawa 1982 sein Wirtschaftsstudium abschloss und das Jobangebot eines Spielzeugherstellers erhielt. Er schlug es aus – er wollte sein Glück zunächst im Manga suchen. Diesen Entscheid hat Urasawa vermutlich nie bereut: Heute ist er ein international gefeierter Manga-Superstar mit einer Gesamtauflage von über 100 Millionen verkauften Büchern in zahlreichen Sprachen.
Seine ersten Kurzgeschichten erschienen 1984, zwei Jahre später begann er seine ersten Storymangas „Pineapple Army“ (Szenario: Kazuya Kudo, 1986–1988) und „Yawara“ (1986–1993), die romantische Komödie um eine junge Judoka. „Yawara“ bedeutete Urasawas Durchbruch in Japan: Die Sammelbände erreichten Millionenauflagen und die Serie wurde als Anime adaptiert. Es folgten die ebenfalls (noch) nicht auf Deutsch veröffentlichten Serien „Master Keaton“ (1988–1994) und „Happy“ (1993–1999), doch der internationale Erfolg stellte sich mit dem verstörenden Serienmörderthriller „Monster“ (1994–2001) ein, der in Deutschland und Tschechien spielt.
Thriller vor dem Hintergrund der deutschen Wende
„Monster“ setzt 1986 in Düsseldorf ein. Der japanische Neurochirurg Kenzō Tenma bereitet die Operation des lebensgefährlich verletzten Jungen Johann Liebert vor. Kurz vor der Operation jedoch wird der kranke Bürgermeister eingeliefert, den Tenma prioritär behandeln soll. Der Arzt setzt sich über diesen Befehl hinweg – und provoziert nicht nur seine persönliche Tragödie, sondern auch das Verschwinden von Johann Liebert. Diesem begegnet er neun Jahre später wieder, er entpuppt sich als das titelgebende „Monster“, was in ein hochkomplexes Drama mündet, das Tenma in die hässlichen Untiefen von Auftragsmord, Eugenik, medizinischen Experimenten und Rechtsextremismus in der Postwendezeit führt.
Bereits in diesen frühen Serien macht Urasawa seinen Anspruch klar: Die Barrieren aufheben, die die kommerziellen Manga-Blockbuster von eher stillen, intimistischen Autorenmangas trennt. Der Erfolg ist ihm wichtig; in Interviews betont er, dass es keinen Sinn mache, Mangas zu zeichnen, ohne populär sein zu wollen. Das bedeutet für ihn indes nicht den Verzicht auf Substanz oder einen persönlichen Bezug zu seinen Geschichten. Diese Gratwanderung gelingt ihm, glaubt er, weil er sich bemühe, das jeweils vorherrschende Zeitgefühl zu verstehen, den Zeitgeist.
Sektenwahn und T. Rex-Ohrwurm
Besonders eindringlich hat Urasawa das Zeitgefühl im autobiografisch grundierten „20th Century Boys“ (1999–2006) eingefangen, dessen Titel der leidenschaftliche Musiker und Popfan an den T. Rex-Hit „20th Century Boy“ von 1973 anlehnte. 1969 denken sich sechs Jugendliche Endzeitfantasien aus, in denen sie heldenhaft eine Organisation bekämpfen, die die Menschheit kraft Riesenrobotern, Bakterienangriffen, Bombenanschlägen und ähnlichen Waffen auslöschen will. Dieses Bubenspiel wird 30 Jahre später Realität, als ein geheimnisvoller Sektenguru die Welt mit genau den Waffen und Prophezeiungen aus dem Spielszenario vernichten will. Der Bezug zu Endzeitsekte Aum Shinrikyo, die 1995 mit ihren Giftgasangriffen in der Tokyoter U-Bahn 13 Menschen umbrachte und 6.000 verletzte, ist unübersehbar. Urasawa nimmt „20th Century Boys“ aber auch zum Anlass, die japanische Pop- und Subkultur seit den 1960er-Jahren aufzurollen.
Tezuka reloaded
Im nachfolgenden „Pluto“ (2003–2009) verknüpft Urasawa höchst aktuelle Diskussionen mit einer Neuinterpretation eines Mangaklassikers: Er wirbelt den Kosmos des Manga-Übervaters Osamu Tezuka durcheinander, indem er Versatzstücke aus dessen „Astroboy“-Geschichten neu und aus anderer, zeitgenössischer Perspektive zu einem kühnen Thriller um Maschinenmenschen und künstliche Intelligenzen zusammenbaut. Nicht weniger rasant als seine Geschichten ist Urasawas Arbeitsweise. 2006 muss er eine Zwangspause einlegen: Er hat sich, als Folge von 20 Jahren pausenlosen Schuftens am Zeichentisch, eine Schulter ausgekugelt.
Und ewig grinst die Fledermaus
Mit „Billy Bat“ (2008–2016) – 2014 mit dem Max und Moritz-Preis für den besten internationalen Comic ausgezeichnet – nimmt Urasawa seine Leser*innen mit auf einen wilden, von abstrusen Verschwörungstheorien durchsetzten Flug durch die Geschichte der Menschheit, der eine mysteriöse Fledermausfigur ihren Stempel aufdrückt.
In „Billy Bat“ hat alles Platz: Von prähistorischen Schamanen über mittelalterliche Samurais bis zu Martin Luther King; von Jesus über den ersten christlichen Missionar in Japan und Einsteins Relativitätstheorie bis zu heimlichen Mondmissionen in den 1980er-Jahren. Fakten, Fiktionen und Verschwörungstheorien sowie mehrfach über- und ineinander geschichtete und verschachtelte Erzählebenen – denn letztlich geht es um nichts Geringeres als die Geschichte der menschlichen Zivilisation(en) im Osten und im Westen.
Das Tempo von Urasawas Stories ist hoch, geradezu atemlos, die Dramaturgie zwingend und dynamisch, das Spiel mit Brüchen und Wendungen virtuos und überraschend. In seinen jeweils mehrere tausend Seiten langen Geschichten verknüpfen sich Unterhaltung und Komplexität, Erfolg und Qualität, Popularität und Substanz auf höchster Ebene. Die Lektüre seiner Epen ist ein immer durchtriebenes und mitreißendes Vergnügen.
Das verheißt auch seine neuste Serie „Asadora“, die Urasawa als seine eigene Interpretation der Geschichte Japans seit 1945 versteht. Das Abenteuer hat begonnen und man lässt sich einmal mehr mitreißen, ohne zu wissen, wohin uns Urasawa diesmal führen wird. Es gäbe, sagte er einmal, kein anderes Medium, in dem Künstler ihre Ideen so effizient ausdrücken können wie im Manga.
Christian Gasser
Publikumspreis
„Lisa und Liovon“ von Daniela Schreiter
– nominiert durch das Publikum