Auf den ersten Blick ist Hamed Eshrats neues Werk eine weitere Coming-of-Age-Story über das junge Leben im Würgegriff der Provinz. Aber der Schein trügt.
„Coming of H“: Der Titel ist ein Wortspiel, das erst beim lauten Lesen verständlich wird, weil das H im Englischen wie englisch „age“ ausgesprochen wird. Als „Coming of Age“ werden Erzählungen bezeichnet, die das Erwachsenwerden schildern. Zugleich bekommt der Text einen autobiographischen Charakter, weil das H auch auf den Verfasser hindeutet: Es ist die Lebensgeschichte des heranwachsenden Hamed Eshrat, der 1979 im Iran geboren wurde und derzeit als Künstler in Berlin lebt.
Eshrat schildert seine eigene Lebensgeschichte, natürlich nicht ohne die gebotene künstlerische Freiheit, die einer Erzählung angemessen ist: „Vieles ist genau so passiert, einiges ganz anders.“ Besonders aufregend ist es nicht im Jahr 1996, denn Hamed lebt (noch) nicht in Berlin, sondern im nordrhein-westfälischen Bünde. „Normalo-Provinz-Scheiße“ nennt er die Reihenhaus-Hölle, in die seine Eltern gezogen sind. Hamed skatet, raucht und sprayt. Während er sich eben comic-of-age-mäßig benimmt (Verbote ignorieren, Drogen probieren, Mädchen küssen), entdeckt er sein Faible für die Kunst, nicht zuletzt dank Nina und der Drogen. Aber während manche seiner Freunde sich etwas zu ernsthaft für das Heroin (eine dritte Bedeutungsdimension des „H“) zu interessieren beginnen, zieht Hamed seinen ersten Grafikjob an Land. Das Kind wird zum Künstler.
In dieser Zeit stirbt sein Vater, laut Autopsie, wie Eshrat betont, an einem Herzinfarkt, und Eshrat deutet mehrfach an, dass die Neurosen seines Vaters, den er sehr liebevoll inszeniert, schon seit Längerem Einfluss auf das Familienleben hatten. Hamed, der Protagonist, ist nun erwachsen und zieht nach Berlin: „Mein ganzes Leben in einem Auto.“ Nein, ein ganzes Leben hat in einem Auto keinen Platz. In diesem grandiosen Comic hingegen schon.
Hierzulande ist Eshrat zuerst nicht mit seinem in Frankreich erschienenen Debüt „Tipping Point“ (2009), sondern mit „Venustransit“ (2015) einem breiteren Publikum bekannt geworden. Mit diesem formal ambitionierten Entwicklungsroman kam Eshrat 2014 unter die 10 Finalist*innen des Comicbuchpreises der Berthold Leibinger Stiftung. Immer wieder streut Eshrat erzählerisch anspruchsvolle Sequenzen, die die Leser*innen vor Herausforderungen stellen, in die ansonsten harmlos anmutende Story ein. Besonders hervorzuheben ist eine längere Passage, in der Eshrat die Indienreise seines Protagonisten schildert, indem er fotografische Reproduktionen seines zum Teil sehr abstrakten Skizzenbuchs abbildet.
„Coming of H“ ist formal viel zurückhaltender als der farblose, aber auf subtile Weise aufregende Bleistiftcomic „Venustransit“, wenngleich manchmal Eshrat seinen erzählerischen Mut wieder durchblitzen lässt. So etwa, als er an der Tür seiner Angebeteten Nina klingelt, um ihr ein Mixtape zu überbringen, und dabei erst vor Aufregung (ganz wörtlich) zerfließt und dann von Adrenalin durchströmt zu einem Ganzkörperphallus heranwächst, den Nina in den Arm nimmt und zärtlich dankt: „Du bist der Größte!“ Wunderbar.
Eshrats überzeichnete Figuren, die skurrilen Dialoge und berührenden Szenen, die einem die Schamesröte ins Gesicht zu treiben vermögen, schildern das wechselvolle Heranwachsen eines jungen Künstlers in der Kleinstadt, künstlerisch interessanter etwa als Allesandro Totas „Fratelli“ über eine Jugend in Italien. Und wenn Andreas Platthaus das französische Genie Baru als Referenz bemüht, um Eshrats Comic zu beschreiben, ist das ein Ritterschlag, dem man kaum widersprechen mag. „Coming of H“ ist alles andere als „Normalo-Provinz-Scheiße“.
Hier gibt es ein Interview mit Hamed Eshrat, hier ein Live-Gespräch beim SplitterCast.
Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.