Jeff Lemires und Andrea Sorrentinos Gemeinschaftswerk „Primordial“ ist ein Mystery-Thriller über das „Space Race“ im Kalten Krieg und die ersten (tierischen) Raumfahrer.
Cape Canaveral im Jahre 1961: Der Informatiker Donald Pembrook, promoviert am berühmten Massachusetts Institute of Technology, wird mit der Ausschlachtung sämtlicher elektronischer Datenverarbeitungssysteme beauftragt, insofern sie noch irgendeinen erkennbaren militärischen Nutzen haben könnten. Das in Florida gelegene Raketenstartgelände der U.S. Air Force ist da schon nicht mehr in Betrieb und der Wettlauf ins All, das „Space Race“ zwischen den USA und der UdSSR, unlängst abgesagt. Pembrook, der insgeheim auf eine Reaktivierung des Raumfahrtprogramms hoffte, erhält über seinen Job Einblick in Unterlagen, die auf mysteriöse Ereignisse im Zusammenhang mit erfolgten Tierversuchen im Weltraum hindeuten. Diese waren vermutlich der Grund für den überhastet wirkenden, systemübergreifenden Abbruch der noch in ihren Kinderschuhen steckenden Raumfahrt Ende der fünfziger Jahre.
In etwa so lässt sich die Exposition von Jeff Lemires und Andrea Sorrentinos zuletzt realisiertem Comicprojekt beschreiben. „Primordial“, ein allohistorischer „Mystery-Thriller vor der Kulisse des Kalten Krieges“ (so der Klappentext), erschien 2021/22 in der englischsprachigen Version bei Image Comics in sechs Heften und ist nun als von Katrin Aust übersetzter Sammelband bei Splitter erhältlich. Neben dem Comic selbst enthält der Band noch eine Galerie der Variant-Cover der in den USA einzeln erschienen Hefte sowie eine Zusammenstellung der zahlreichen Splash-Panels des Zeichners Sorrentino am Ende des Bandes.
In der Alternativweltgeschichte der beiden Comicmacher werden drei Thematiken geschickt miteinander verwoben: Anders als es die Verlagsbeschreibung vermuten lässt, ist die Ansiedlung der Geschichte zu Zeiten des Kalten Krieges mehr als nur zeitliches Kolorit. Angesichts der Diskussionen über die Frage, ob wir es derzeit mit einem Wiederaufleben des Kalten Krieges, wenn auch unter geänderten Vorzeichen, zu tun haben, und weil auch die Möglichkeit einer nuklearen Eskalation im Raum steht, erscheint der lange überwunden geglaubte Systemgegensatz zwischen Ost und West aktueller denn je.
Weil in „Primordial“ aber alles anders ist, als es scheint, anders auch als es uns die Geschichtsbücher gelehrt haben (wie schon erwähnt wurden die Raumfahrtprogramme der beiden Supermächte recht schnell eingestellt, Nixon schlägt John F. Kennedy bei den Präsidentschaftswahlen 1961, nach einem Krieg zwischen den USA und der UdSSR fallen große Teile Europas unter sowjetische Hegemonie), ist die zweite hier im Erzählmedium verhandelte Problematik die des schwindenden Grundes des Faktischen im Post-Truth-Zeitalter. Die Zeit des Kalten Krieges, aber auch die Zeit (nach) seiner Überwindung war und ist voll von bis heute wirksamen Mythen und Verschwörungserzählungen, hüben wie drüben. Die Geschichte des zweiten großen Systemkonfliktes im 20. Jahrhundert wird wohl in hundert Jahren nochmals ganz anders erzählt werden als heute.
Diese beiden Thematiken rahmen gewissermaßen den eigentlichen Plot der Geschichte: Der oben erwähnte Wissenschaftler – der menschliche Protagonist der Comicerzählung – erfährt, dass die drei 1957 bzw. 1959 ins All geschickten Tiere – die Mischlingshündin Laika, das Seidenäffchen Baker und der Rhesusaffe Baker – anders als angenommen und offiziell verbreitet nicht während ihres Einsatzes ums Leben gekommen sind. Er geht ein hohes persönliches Risiko ein, um die Frage zu klären, ob der Abbruch des „Space Race“ etwas mit dem rätselhaften Verschwinden der Tiere im All zu tun haben könnte. Die Geheimdienste beider Seiten des Eisernen Vorhangs stellen sich im Folgenden seiner Suche nach Antworten in den Weg, was wiederum schon als ein Teil der Antwort auf seine Frage erscheint.
Und auch die Tiere selbst werden zu nichtmenschlichen, wenn auch anthropomorphen Protagonisten der Geschichte. Ihr beschwerlicher Versuch, auf die Erde zurückzukehren, ist eine besondere Variation des Wiedergänger-Motivs, das schon in Lemires und Sorrentinos Vorgängerserie „Gideon Falls“ eine gewichtige Rolle spielte und der Geschichte eine sozialphilosophische bzw. tierethische Dimension verleiht. Wer sich die Zeit nimmt, einmal die Originalfotografien der beiden raumfahrenden Primaten in ihrem Raumanzug (Able) bzw. ihrer Raumkapsel (Baker) zu betrachten, kann dies wohl kaum tun, ohne dass ihn ein Gefühl der Beklommenheit überkommt. Die in „Primordial“ behandelte Möglichkeit der Wiederkehr zweier offensichtlich bis ins Mark gequälter Kreaturen (zum Wohle des menschlichen Fortschritts natürlich!) eröffnet einen Raum des Schreckens, der von der zugunsten der menschlichen Fortschrittserzählung notwendigen kollektiven Verdrängungsleistung zehrt.
Einmal mehr erweist sich der Comiczeichner Andrea Sorrentino als kongenialer Partner des Autors und Szenaristen Jeff Lemire. Sein schon in anderen Serien gesehener düsterer neorealistischer Zeichenstil – blau-grau-schwarz gehaltene Weichzeichnungen bei gleichzeitiger Überbetonung von Schattierungen – kontrastiert hier mit einem weiteren grafischen Einsatz, der naturalistischer und zugleich heller gehalten ist und immer dann zum Zuge kommt, wenn die Geschichte aus der Sicht der Tiere erzählt wird. In mehreren Splash-Panels wird mit der Anordnung der Bilder spielerisch experimentiert: Während sich das Zeitliche dem Räumlichen unterordnet, tritt an die Stelle einer kohärenten Erzählweise ein Moment der Unterbrechung und der Möglichkeit der inneren Distanzierung vom Erzählten.
Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Primordial“.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 28.12.2022 auf: Taz-[ˈkɒmik_blɔg]
Mario Zehe (*1978) ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Lehrer für Geschichte, Politik & Wirtschaft an einer Freinet-Schule bei Quedlinburg (Harz). Seit vielen Jahren liest er Comics aller Art, redet und schreibt gern darüber, u. a. im [ˈkɒmik_blɔg] der Taz und für den Freitag.