Über das Böse

Flirt mit dem Nichts: Die sechsbändige Comicserie „Gideon Falls“ wartet mit komplexem und subtilem Horror auf.

Hatte Albert Einstein mittels seiner Relativitätstheorie verschiedene Möglichkeiten des Zeitreisens aufgezeigt, wurde dies im 20. Jahrhundert zum beliebten Motiv in Literatur und Film. Auch in Comics ist das Zeitreisemotiv immer wieder aufgegriffen worden, wie z. B. in der genial bizarren Superheldensatire „The Umbrella Academy“ von Gerard Way und Daniel Ba, in der das Hin- und Herspringen der Protagonisten zwischen den Zeitebenen zahlreiche Katastrophen verursacht, aber schließlich auch die Rettung vor der totalen Apokalypse herbeiführt. Koloriert wurde die Serie von dem mehrfachen Eisner-Award-Gewinner Dave Stewart, der auch bei einer neueren Furore machenden Comicserie – im wahrsten Wortsinne – die Hände im Spiel hatte.

Jeff Lemire (Autor), Andrea Sorrentino (Zeichner): „Gideon Falls Bd. 1-6“.
Aus dem Englischen von Bernd Kronsbein. Splitter Verlag, Bielefeld 2019-2021. 160/136/136/136/144/112 Seiten. 19,80-24 Euro

In „Gideon Falls“ von Jeff Lemire (Autor), Andrea Sorrentino (Zeichner) und eben jenem Dave Stewart erweist sich die Möglichkeit des Zeitreisens ebenfalls als Flirt mit dem Nichts, nur dass es hier wesentlich düsterer zugeht und humorige Momente eher die Ausnahme bleiben. Zweimal gab es für die im Jahr 2018 eröffnete Serie den renommierten Eisner-Award (2019, 2020), der mit dem Filmpreis Academy Award („Oscar“) vergleichbar ist, und außerdem viel Lob von Comicfans und der Fachpresse. Mit Erscheinen des letzten Bandes in deutscher Übersetzung beim Splitter-Verlag soll hier nun ein Resümee gezogen werden.

Die Geschichte beginnt mit dem Auftauchen einer mysteriösen schwarzen Scheune in einer Stadt namens Gideon Falls, und zwar gleich in doppelter Hinsicht: In einer ländlich geprägten Version von Gideon Falls findet der gerade ins dortige Pfarramt berufene Pater Wilfred auf offenem Feld eine grausam zugerichtete Leiche, unmittelbar nachdem ihm an dieser Stelle die ominöse Scheune erschienen war. Da er zunächst selbst des Mordes verdächtigt wird, wird er – nach seiner Entlastung – zunehmend in die Bemühungen zur Aufklärung der Tat verstrickt, die in Verbindung zu stehen scheint mit einem für die Bewohner des Städtchens weiter zurückliegenden traumatischen Ereignis. In einer zweiten, großstädtischen Version Gideon Falls‘ ist es ein (scheinbar) schizophrener junger Mann, dem das Bild der schwarzen Scheune in seinen Träumen erscheint und die Suche nach deren Trümmern im städtischen Müll zur obsessiven Leidenschaft wird. Auch wenn die Handlungsstränge der beiden Figuren zunächst per Parallelmontage nebeneinander erzählt werden, ist doch schnell klar, dass sich deren Wege schon bald kreuzen müssen.

Dass jener Mann aus der Großstadt das Haus nicht ohne FFP2-Maske verlässt, verschaffte der Serie eine ikonische Aktualität, die aber rein zufällig ist. Immerhin erschienen die ersten Hefte lange vor Ausbruch der Corona-Pandemie. Nichtsdestotrotz treffen die Bilder von Norton Sinclair (so nennt sich der Mann zunächst) und später auch anderen Figuren mit professionellem Nasen-Mundschutz empfindlich auf die in dieser Beziehung blank liegenden Nerven der Leser*innen. Denn das, was bei Sinclair wohl einfach als äußerliches Charakteristikum seiner Zwangs- und Wahnvorstellungen entworfen wurde, lässt den Horror für die Leser*innen von „Gideon Falls“ schon da beginnen, wo ihn die Comicmacher eigentlich noch gar nicht im Sinn haben konnten. Für schaurigen Eskapismus ist die Serie jedenfalls nicht gemacht, zu sehr ziehen sich zahlreiche weitere aktuelle Referenzen durch das Werk: Da ist (zumindest zu Beginn) der Gegensatz zwischen Stadt und Land in beiden Versionen von Gideon Falls, der eine grundsätzliche gesellschaftliche Konfliktlinie der Gegenwart aufs Tapet zu bringen scheint, da ist die obsessive Suche nach der Realität hinter der Realität, wie sich in Wahn und Verschwörungsglauben äußert, und da ist (zu einem späteren Zeitpunkt) der Zerfall jeglicher Ordnung mitsamt einer Vervielfachung der Realitäten.

Um nicht missverstanden zu werden: Die Comicserie hat nichts zu tun mit dem sozialkritischen Anspruch von Jonathan Hickmans Thriller-Serie „Black Monday Murders“ oder den soziologischen interessierten Fragen nach gesellschaftlicher Organisation, Machtverteilung und dem Problem radikaler Andersheit in Robert Kirkmans „The Walking Dead“, auch wenn es zumindest in der Exposition noch so scheinen mag. Die herausragende Qualität von „Gideon Falls“ begründet sich vielmehr in der kompositorischen und visuellen Realisierung der Erzählung. Lemires Erzählstil ist subtil, verschachtelt, vielschichtig und voller intertextueller Verweise. Er vermag sowohl Spannung, Furcht und Entsetzen zu erzeugen als auch kontemplativ über die „Natur“ des Bösen zu sinnieren. Mehr als originell ist auch die visuelle Gestaltung des Comic durch Andrea Sorrentino, der auf unkonventionelle Art und Weise die Seitenarchitektur des Comics in rhetorischer als auch in produktiver Hinsicht zu funktionalisieren vermag. Davon abgesehen ist sein düsterer, neorealistischer Zeichenstil verbunden mit der expressiven Farbgestaltung Dave Stewarts das wohl letztlich entscheidende ästhetische Moment, das der Erzählung Lemires die angemessene atmosphärische Tiefe verleiht.

Wie eben schon gesagt, wird eine mögliche Funktion des Horrorgenres – ein komplexes Gesellschaftsbild zu zeichnen, in welchem die verdrängten Traumata der Vergangenheit und Gegenwart durch Monster und Wiedergänger verkörpert werden – durch „Gideon Falls“ nur bedingt erfüllt. Dennoch beginnt spätestens mit dem Eintreten der Protagonisten in die Scheune eine Reise, die uns mit mit dem Schrecklichsten konfrontiert und die Frage nach der Herkunft des Bösen ebenso aufwirft wie die nach der Möglichkeit seiner Einhegung. Dass dies hier keinem Einzelnen gelingen kann, sondern nur dem Zusammenwirken einer soldarischen Gemeinschaft zu verdanken ist, ist in heutigen Zeiten ja auch schon ein gesellschaftspolitisches Statement.

Diese Kritik erschien zuerst am 31.01.2022 auf: Taz-[ˈkɒmik_blɔg]

Mario Zehe (*1978) ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Lehrer für Geschichte, Politik & Wirtschaft an einer Freinet-Schule bei Quedlinburg (Harz). Seit vielen Jahren liest er Comics aller Art, redet und schreibt gern darüber, u. a. im [ˈkɒmik_blɔg] der Taz und für den Freitag.

Seite aus „Gideon Falls“ (Splitter Verlag)