Gib dem Affen Treibstoff

Ende der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts: Die Raumfahrt steckt noch in den Kinderschuhen. Und die werden noch nicht von Astronauten ausgefüllt, sondern von Tieren: Laika, Able und Baker, eine Hündin und zwei Affen. 1957 wird Laika von den Russen mit Sputnik 2 ins All geschossen und stirbt, als die Mission schon bald nach dem Start scheitert. Zwei Jahre später geht es den Amerikanern ebenso. Beide Affen sterben. Daraufhin beenden die USA und die Sowjetunion ihr Raumfahrtprogramm. Der Wettlauf ins All findet nicht statt. Wieder zwei Jahre später ist der studierte Elektroniker Donald Pembrook Teil des Teams, das Cape Canaveral demontieren soll. Dort entdeckt er Aufzeichnungen, die beweisen, dass die beiden Affen Able und Baker nicht, wie offiziell erklärt, gestorben sind. Nachdem höhere Stellen dazu schweigen, führt ihn ein anonymer Hinweis nach Deutschland. In Ost-Berlin trifft er auf Yelena Nostrovic, die einst Laikas Betreuerin war. Und Yelena ist sich sicher: Auch Laika muss noch am Leben sein, irgendwo da draußen im All…

Nach „Old Man Logan“, „Joker: Killer Smile“ (beides bei Panini) und natürlich dem wunderbaren Horror/Fantasy-Epos „Gideon Falls“ veröffentlicht Splitter mit „Primordial“ die neueste Zusammenarbeit des preisgekrönten Duos, dem kanadischen Autor Jeff Lemire und dem italienischen Zeichner Andrea Sorrentino (wobei die Kolorierung einmal mehr von Dave Stewart stammt, der bei „Gideon Falls“ ebenfalls an Bord war). Und die schlägt visuell in eine ähnliche Kerbe wie „Gideon Falls“ – Sorrentino arbeitet erneut mit Stilmitteln, die die herkömmliche Panelstruktur immer wieder aushebeln. Viele kleine und Kleinstpanels, die sich mitunter zu Quadraten formen, regelrechte Choreographien von Doppelseiten und eine mutige Leere (samt Pink-Floyd-Hommage). Was dem Ganzen eine gewisse Abstraktheit verleiht. Und was zur Story passt, die man wahlweise als hanebüchen oder als clever betrachten kann. Und die so – auch durch ihre visuelle Anlage – massiv Raum für Interpretationen erhält.

Schnell ist klar, dass die Geschichte in einer Alternativwelt spielt. Das sich anbahnende Space Race wurde nach den Fehlschlägen abrupt beendet, noch ehe es in Fahrt kam. Etwas Einschneidendes muss geschehen sein. Was genau wird zwar angerissen, aber nicht ergründet. Fest steht, dass später die Russen über weiter Teile Europas herrschen. Die höhere Macht, die die Tiere, die Stars des Bandes, „entführt“ (das ist kein Spoiler, das steht auf dem Backcover) – ob Außerirdische oder gar eine göttliche Instanz – bleibt abstrakt und eine Frage der Deutung. Lemire baut einmal mehr ein massives Mysterium auf, nur diesmal ohne Auflösung, ohne Hintergründe und Erklärungen. Auch typisch Lemire: Der Einstieg in die Story erfolgt schnell, nach nur wenige Seiten ist man mittendrin. Sorrentino variiert dabei seinen Zeichenstil, ob eher grob mit starken Schwarz-Kontrasten oder filigran bei den Tierdarstellungen. Daraus basteln die beiden ein Ganzes, das einem nach dem Lesen überrascht und ein Stück weit ratlos (positiv wie negativ) zurücklässt. Der Band beinhaltet die komplette Image-Miniserie inklusive diverser Variant-Cover.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Primordial“.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.

Jeff Lemire (Autor), Andrea Sorrentino (Zeichner): „Primordial“. Aus dem Englischen von Katrin Aust. Splitter Verlag, Bielefeld 2022. 176 Seiten. 25 Euro