Die russische Journalistin Anna Rakhmanko und der dänische Comickünstler Mikkel Sommer leben als Paar zwischen Berlin und Athen. Zusammen haben sie in Rakhmankos Heimat bereits mehrere gezeichnete Reportagen umgesetzt. In „Strannik“ von 2019 erzählen sie vom sozialen Elend in Russland und begleiten einen obdachlosen Ex-Sportler durch seinen Alltag. „Vasja, dein Opa“ (2021) ist ein Oral-History-Puzzle, in dem Anna Rakhmanko die Geschichte ihrer Familie im hohen Norden Russlands rekonstruiert.
Mit „Hinterhof“ haben Rakhmanko und Sommer nun ihre bislang aufwändigste Comicreportage vorgelegt. Protagonistin ihres Doku-Essays ist die Berliner Künstlerin und Sexarbeiterin Dasa Hink, eine gebürtige Israelin, die über die Niederlande nach Berlin kam und sich – nach einem eher klassischen Start ins Erwachsenenlebenleben mit fester Beziehung und Reihenhäuschen am Horizont – als Domina in einem Berliner BDSM-Studio neu erfand. Anna Rakhmanko und Mikkel Sommer haben die eloquente Sexworkerin im Alltag begleitet und sie in intensiven Interviewsessions über ihr Leben, ihre Träume, Ambitionen und Gedanken zu den Motiven und Bedürfnissen ihrer Kunden sprechen lassen. „Hinterhof“ widmet mich sich mit viel Anteilnahme und Nähe seiner Hauptfigur. Es ist eine seltsame, aber nie befremdliche oder gar voyeuristische Reise in die Welt der Gerten, Anal Plugs, Lederstriemen und Latexkostüme. Im folgenden Presse-Interview spricht Dasa Hink über das Comic-Projekt.
Liebe Dasa, vielen Dank, dass du dir die Zeit nimmst, um mit uns über die Comic-Reportage „Hinterhof“ zu sprechen. Bevor wir uns über das Buch unterhalten, würde ich gerne mehr über dich und deinen Beruf erfahren. Du stammst ursprünglich aus Holland. Was hat dich nach Berlin verschlagen? Was hast du hier gesucht – und hast du es gefunden?
Ich komme eigentlich aus Israel, habe aber lange in den Niederlanden gelebt, bevor ich nach Berlin kam. Ich habe in Den Haag gewohnt, einer wunderschönen Stadt am Meer, und alles war eigentlich ganz nett und beschaulich, aber etwas langweilig. Ich war damals noch nicht bereit, erwachsen zu werden, und wollte wieder wild und jung sein. Berlin hat genau diesen Wunsch erfüllt, hier konnte ich mich neu erfinden.
Wie kommt man zu einem Job als Domina? Hattest du davor eine Vorstellung, was sich hinter dieser Berufsbeschreibung verbirgt? Was hat dich an dem Job am meisten überrascht?
Als ich nach Berlin gezogen bin, brauchte ich ganz einfach Geld. Zufällig habe ich in der Zeitung eine Anzeige gesehen: „Domina-Studio sucht neue Damen. Kein Sex, keine Drogen oder Alkohol, gut bezahlt.“ Und ich dachte, das klingt besser, als wieder in einem Café oder Restaurant als Kellnerin zu arbeiten! Ich war sehr neugierig und wollte es zumindest einmal ausprobieren. Es hat mich total überrascht, wie natürlich es sich für mich anfühlte. Obwohl ich mich vorher nicht unbedingt als eine sehr dominante Person gesehen hatte… Dieser Job hat etwas in mir geweckt.
In „Hinterhof“ sprichst du viel über Klischees und falsche Vorstellungen. Was sind die am meisten verbreiteten Klischees über BDSM und Sexarbeit im Allgemeinen? Wie kann man die Missverständnisse und Tabus, die die Menschen über diesen Beruf haben, ausräumen?
Das größte Klischee über professionelles BDSM ist, dass der „Sklave“ immer kniet, Stiefel leckt und Schmerzen ertragen muss und die „Herrin“ kalt und distanziert ist und den Klienten niemals anfasst. In Wirklichkeit gibt es endlose Spielarten, von ganz zart und intim bis hart. Es geht nicht nur um Macht und Unterwürfigkeit. Jeder Gast hat andere Bedürfnisse und eine gute Domina muss das Kopfkino des Gastes verstehen und ihre Fähigkeiten nutzen, um mit seinem Kopf und Körper zu arbeiten. Meine Art und Weise vom BDSM ist ziemlich erotisch und körpernah. Sexarbeiter*innen werden oft als arme Opfer wahrgenommen. Das muss aber nicht so sein. Ich persönlich habe über die Jahre viele glückliche Sexarbeiter*innen kennengelernt, die mit ihrem Beruf gut leben können oder ihn sogar als ihre Leidenschaft begreifen. Ich finde, Sexarbeiter*innen machen einen wichtigen Job für Menschen, die entweder eine komplizierte Beziehung zu ihrer eigenen Sexualität, außergewöhnliche Neigungen oder keine Beziehung haben. Sie verdienen Mitgefühl und benötigen auch Wärme und Körperkontakt, ein Grundbedürfnis für alle Menschen. Sexarbeiter*innen werden in unserer Gesellschaft nicht genug wertgeschätzt. Deswegen bin ich Anna und Mikkel für ihre Arbeit an „Hinterhof“ dankbar. Sie erzählen in ihrem Buch sehr anschaulich und gut strukturiert, wie schön und vielfältig meine Arbeit ist, um mit genau diesen Klischees und Tabus aufzuräumen.
Du arbeitest auch als freie Künstlerin und Designerin. Kannst du uns etwas über diesen Aspekt deiner Arbeit erzählen? Inwieweit spielt deine Kunst in deinen Job hinein – und umgekehrt, wie viel Kunst integrierst du in deinen Arbeitsalltag?
Domina sein ist sehr kreativ. Ich bin im Grunde eine Performancekünstlerin. Stell dir vor, du müsstest jetzt aus dem Stegreif eine Improtheater-Szene spielen, in der du einen Mann erwischt hast, der sich in deiner Wohnung hinter einer Tür versteckt hat. Warum steht er da? Du willst es genau wissen und verhörst ihn. Das ist ein Beispiel von einem beliebten Rollenspiel in meinem Arbeitsalltag. In solchen Situationen sprudeln aus mir Ideen und Background-Storys heraus, und wenn der Gast mitspielt, dann ist es eine tolle Spielwiese voller Inspiration und Impulsen. Und auch so gibt es viele kreative Aspekte an meinem Beruf. Ich schreibe Texte, damit die Gäste mehr über mich und wie ich ticke lesen können. Ich organisiere Fotoshootings und style mich. Wie ich während einer Session den Raum betrete, ist auch Teil von meiner Performance. Als Künstlerin verarbeite ich oft mein Arbeitsleben – ich schreibe über meine Erfahrungen mit Gästen und texte Songs über Sexarbeit. Als Künstlerin suche ich die Inspiration im Sinnlichen und Andersweltlichen. Ich arbeite viel mit Latex, dem Fetischmaterial schlechthin. Die Arbeit als Domina hat mir das Selbstvertrauen und die finanzielle Stabilität gegeben, damit ich mehr in meine Kreativität investieren kann.
Magst du uns erzählen, wie es zu der Zusammenarbeit mit Anna Rakhmanko und Mikkel Sommer kam? Was hat dich an diesem Projekt gereizt?
Das ist doch ein Traum, wenn jemand über dich einen Comic schreiben will! Ich kannte Anna und Mikkel schon privat und wir waren uns sehr sympathisch. Anna hat mir mal erzählt, dass sie gerne ein Buch über mich schreiben möchte. Ich fand es eine tolle Idee, aber dachte, dass es bei der Idee bleiben werde. Dann habe ich die anderen Bücher von den beiden gelesen und war sehr begeistert. Während der Entstehung des Buchs wuchs meine Begeisterung für das Projekt immer mehr. Die Zeichnungen sind wirklich etwas Besonderes und wunderschön, und ich finde, dass Anna und Mikkel eine überzeugende Art gefunden haben, die Bild- und Textebene aufeinander abzustimmen.
Wie liefen Interviews zwischen Anna, Mikkel und dir ab? Und wie detailliert war die Zusammenarbeit an Skript und zeichnerischer Umsetzung?
Die Interviews waren ganz locker, wir haben stundenlang über alles gesprochen, über persönliche Themen und über die Arbeit. Aus diesen Interviewsitzungen hat Anna dann manche Themen ausgewählt und sie für das Skript aufgearbeitet. Ich hatte stets die Freiheit, Teile rauszuschneiden oder zu ändern, wenn ich bestimme Akzentuierungen nicht ganz passend fand. Mikkel war auch bei mir im Studio und hat sich alles genau angesehen, Fotos gemacht und viele Fragen gestellt, um eine Ahnung zu kriegen, wie sich alles für die Kunden anfühlt und diese Intimität auch zeichnerisch darzustellen.
Interessant fand ich die Passagen, die dich bei alltäglichen Dingen wie Essen zubereiten oder mit deiner Katze zeigen, während du auf der Textebene über deine Arbeit, über Schmerzen, Vertrauen, Bindung etc. erzählst. Hier sieht man die erzählerische Kraft des Comics und der verschiedenen Ebenen, die man über das Zusammenspiel zwischen Text und Bild evozieren kann. Waren Anna, Mikkel und dir diese Sequenzen wichtig, um durch das Alltägliche den Beruf auch als etwas „Normales“ darzustellen und ihm das Exotische zu nehmen?
Genau, ich glaube, das war mehr oder weniger die Idee. Ich bin ein ganz normaler Mensch, sehe eher nicht dominant aus. Ich arbeite im Garten und trage zu Hause einen dicken Pulli, keine Lederkorsage. Es hilft uns, wenn die Menschen verstehen, dass wir genauso norma und durchschnittlich sind wie alle anderen Menschen in anderen Berufen.
In einer Szene erzählst du über deine Schwestern, die als Feministinnen ein Problem mit Sexarbeit haben. Das Thema Sexarbeit polarisiert stark im feministischen Diskurs und spaltet die Bewegung zwischen dem klassischen Feminismus der zweiten Welle, die Prostitution und Ausbeutung gleichsetzt, und jüngeren feministischen Positionen, die sich mit Sex-Worker*innen solidarisieren. Wie nimmst du diese Diskussionen wahr? Kannst du beide Positionen verstehen?
Ganz klar sind nicht alle Sexworker „empowered“ wie ich. Es ist ein kompliziertes Thema. Mann darf und sollte sich bei diesem Thema nicht in Schwarzweißdenken versteifen – damit können wir die Problemen in der Sexbranche nicht lösen. Wir alle müssen akzeptieren, dass es Sexarbeit gibt, schon immer gab und auch in Zukunft geben wird. Jeder Versuch, diese Szene zu unterdrücken, macht Sexarbeiter*innen das Leben schwerer und ihren Alltag gefährlicher. In den letzten Jahren haben sich Feminist*innen mit „guten Absichten“ ganz schreckliche Regeln ausgedacht. Zum Beispiel das Sexkaufverbot, eine Forderung, die fast so schlimm ist wie Illegalität. Oder FOSTA-SESTA in den USA, ein Gesetz, das durch strenge Zensurmaßnahmen zur Folge hatte, dass Sexworker online ihre Stimme verloren haben. Ich möchte auch nicht, dass Menschen unter Zwang diesen Beruf ausüben. Die Frage ist nur, wie kann man wirklich helfen. Warum fühle ich mich wohl und sicher in meinem Job? Ich bin selbständig und brauche keinen „Schutz“ von irgendwelchen Zuhältern, weil meine Arbeit legal ist und ich in einem tollen Studio arbeiten kann. Ich zahle Steuern und bin Teil unserer Gesellschaft. Meine Arbeit ist in Berlin akzeptiert und ich kann offen über sie sprechen.
Zum Schluss: hast du ein Wunsch-Lesepublikum für „Hinterhof“? Welche Menschen möchtest du mit dem Buch und deiner Geschichte erreichen?
Ich hoffe nur, dass die Leser*innen etwas Positives mitnehmen können über meinen Beruf oder allgemein über Sexualität. Vielleicht erreicht das Buch auch Leute, die sich für ihre eigenen Fetische oder Neigungen schämen, und hoffentlich fühlen sie sich nach der Lektüre wohler damit. Vielleicht kann das Buch auch für eine offenere Debatte über das Thema sorgen, das würde mich sehr stolz machen.