Pastiche und Parodie

Der Zeichner Jacques Tardi schuf mit „Adele“ eine Comic-Heldin, wie sie in den Siebzigern selten war: Schriftstellerin, stets bekleidet und unabhängig.

Die 1970er waren das Golden Age der französischen Erwachsenen-Comics. Ein Schönheitsfehler aus heutiger Sicht: An den Zeichentischen saßen fast ausschließlich Männer. Ein paar Zeichnerinnen gab es zwar, etwa die geniale Claire Bretécher, aber sie waren eine kleine Minderheit. In den Comics selbst fehlte es dagegen nicht an Frauen, allerdings war ihre Darstellung einer spezifisch männlich-heterosexuellen Perspektive verpflichtet. Sie waren Schau-Objekte: jung und hübsch, gerne vollbusig und – nun, da keine Zensur mehr griff – sehr oft nackt.

Eine der wenigen Ausnahmen von dieser Regel heißt Adele – im Original: Adele Blanc-Sec, erfunden von Jacques Tardi. In krassem Kontrast zu dem, was sonst üblich war, tritt sie fast immer hochgeschlossen auf. Sie muss sich nicht ausziehen, um zu gefallen, und sie ist auch keine Nebenfigur. Sie ist Schriftstellerin und die Heldin ihrer Serie. Sie raucht, trinkt und legt die Füße auf den Tisch. Darunter, dass sie allein lebt, ohne love interest, scheint sie nicht zu leiden. Die unglaublichen Geschehnisse, in die sie verwickelt wird, durchlebt sie mit cooler, fast schon stoischer Resilienz.

Die ersten fünf „Adele“-Bände erschienen in schneller Folge zwischen 1976 und 1980. Danach wurden die Abstände immer größer, weil der 1946 geborene Tardi zu einer Generation von Zeichnern gehört, die sich von dem Zwang, einer Serie verpflichtet zu sein, zu emanzipieren suchte und Einzelpublikationen bevorzugt. Der zehnte, abschließende Band kam erst im letzten Herbst heraus. Jetzt liegt die Serie in einer dreibändigen Gesamtausgabe vor, die der Schreiber & Leser-Verlag für die deutsche Version um kenntnisreiche Vorworte ergänzt hat.

Die Abenteuer Adeles spielen in Paris zwischen 1911 und 1923. Am Anfang taucht meistens ein Monster auf: ein Flugdinosaurier oder ein Urzeitmensch, eine lebende Mumie, ein gigantischer Krake oder ein Minotaurus. Im Anschluss daran entwickeln sich mehrere, ineinander verknäulte Handlungsstränge, die nicht nur das Lesepublikum, sondern auch die Heldin perplex sein lassen können: „Was für ein Durcheinander!“, seufzt Adele schon am Ende des ersten Bandes. Manches wird nicht auserzählt, und dafür, Ereignisse oder das Verhalten von Figuren schlüssig zu motivieren, interessiert sich Tardi nur bedingt. Wenn ein Mad Scientist Adele unerbittlich mit seinem Hass verfolgt, dann – wie eine andere Figur erklärt – hasst er sie halt; mehr ist da nicht zu sagen.

© Schreiber & Leser / Casterman / Tardi

„Adele“ ist eine Mischung aus Pastiche und Parodie. Einerseits orientiert Tardi sich an der französischen Pulp Fiction der Belle Époque und ihrer Folgejahre: an der Kioskliteratur, den Romanen Gaston Leroux’ („Das Phantom der Oper“, 1910) und den von den Surrealisten hochgeschätzten Serials Louis Feuillades („Fantômas“, 1913–1914; „Les Vampires“, 1915–1916). Hinzu kommen Verweise auf Poe und Sherlock Holmes, auf Frankenstein und King Kong. Andererseits nimmt Tardi das, was er erzählt, permanent auf die Schippe: durch Übersteigerung ins Haarsträubende und Groteske, durch ironisierende Dialoge und Blocktexte. Gleich fünf Mal steht über einem Panel, das den Pariser Justizpalast zeigt, dass „dessen mittelalterliche Türme sich wie Galgen abzeichnen: düstere Symbole für Unterdrückung und Willkür“.

So wenig dieses Pathos ernst gemeint ist, deutet es zugleich auf die linken, anarchistischen Überzeugungen Tardis, die mehrfach aufblitzen. Die diversen Mad Scientists sind Witzfiguren, aber auch das Verbindungsglied zwischen dem furchtbaren Arzt in Büchners „Woyzeck“ und einem Dr. Mengele. Am Ende des vierten Bandes beginnt der Erste Weltkrieg, dem Tardi mehrere Comics gewidmet hat. Das vorletzte Panel ist schwarz; das letzte zeigt mit Bajonetten versehene Gewehrschäfte, die emporgereckte Skelettarme assoziieren lassen. Und wenn sich im Abschlussband Mumien ausgerechnet in der Academie française zu einer Tagung zusammenfinden, ist nicht schwer zu erschließen, was Tardi von dieser ehrwürdigen Institution hält.

„Adele“ ist kein Comic für Kinder, zeigt aber, wie sehr Tardi dem Erbe Hergés verpflichtet ist. Seine Art, Menschen zu zeichnen, ist etwas realistischer, hat aber noch ein Semi-Funny-Gepräge. An einer Stelle zitiert er direkt aus „Tim und Struppi“: In „Die sieben Kristallkugeln“ erscheint Tim die Mumie eines Inkakönigs im Traum; ebenso ergeht es Adele mit einem assyrischen Dämon. Mit Hergé verbindet Tardi zudem die dokumentarische Sorgfalt in Bezug auf Schauplätze. In die Geschichte der Comics wird er auch als Chronist eines vergangenen Paris eingehen. Liest man die 475 Seiten von „Adele“ am Stück, kann die unablässige Folge von irrwitzigen Vorfällen, Twists und Enthüllungen ein wenig ermüden. Zum Hineinträumen sind dafür stets die Bilder von Paris, das Tardi gerade nicht als Stadt der Lichter zeigt, sondern in Noir-Stimmungen: in der Nacht, verschneit oder, am schönsten, in dichtem Regen.

Hier gibt es einen Essay von Georg Seeßlen zu Tardis „Adele“-Comics.

Dieser Text erschien zuerst am 05.02.2023 in der taz.

Christoph Haas lebt im äußersten Südosten Deutschlands und schreibt gerne über Comics, für die Süddeutsche Zeitung, die TAZ, den Tagesspiegel und die Passauer Neue Presse.

Jacques Tardi: „Adele Blanc-Sec“. Sammelband I – III. Aus dem Französischen von Wiebke Besson, Resel Rebiersch und Martin Budde. Schreiber & Leser, Hamburg 2021–2023. Band I und II 160 Seiten, jeweils 29,80 Euro; Band III 224 Seiten, 39,80 Euro