Berlin-Souvenir mit historischen Referenzen

Eine Songcomic-Anthologie des Ventil Verlags erinnert an das Ton Steine Scherben-Album „Keine Macht für Niemand“. Alle Beiträge behandeln implizit die Frage: Besitzt es für die heutige politische Weltlage noch Relevanz?

Ein riesiges, halsloses Hundewesen begleitet ein Kind durch die Wohnung, durch die Stadt und schließlich auf dem Rücksitz des Fahrrades raus, vorbei an Hochhäusern in eine psychedelisch bunte Landschaft. Das ist Katrin Klingners Comic-Interpretation des 50-jährigen Ton Steine Scherben-Songs „Wie müssen hier raus“. Als junger Mensch ohne 70er-Hausbesetzer-Erfarung benutzt sie das Lied als Soundtrack und übersetzt den Refrain in die Corona-Lockdown-Zeit. Nur raus aus der Enge der Großstadt, weg vom Leben voller Regeln!

Der Ventil Verlag huldigt mit „Keine Macht für Niemand“ einem ikonischen Werk, das eng mit Berlin verbunden ist, dem 1972er-Album von Ton Steine Scherben. Es ist der bereits fünfte Band der verlagseigenen Songcomic-Reihe, die auf dem Konzept „Zeichner*in zeichnet Lied in sequentieller Umsetzung“ basiert. Viele der Comickünstler*innen sind jung, das Weltgeschehen fordert heute andere Haltungen als damals in Berlin-Kreuzberg, als die Polizei nach einer Razzia im besetzten Georg-Rauch-Haus viele Bewohner*innen festnahm, weil sie diesen Waffenbau unterstellte. Und genau diese zeitgeschichtliche Diskrepanz macht es interessant. Die Umsetzung der 12 Lieder des Albums ist also nicht nur aus dem eigenen Erlebnisschatz gespeist, sondern entstand auf dem sinnlich-assoziativen Weg. Es wurden neue Geschichten zu alten Texten gefunden, oder der Zufall entfaltete seine magische Kraft. Wie bei Mia Oberländers ständig wachsender Raupe aus Kugelsegmenten, die durch immer neu andockende Punkte dem Schicksal von „Allein machen sie dich ein“ trotzt. Die Idee entstand, weil sie als Arbeitsmaterial statt normalem Papier nur gepunktetes Geschenkpapier zur Verfügung hatte. Sascha Hommer dagegen sieht einen großen Interpretationsspielraum; bei ihm arbeiten sich großäugige Kleinkinder in der tristen Sandkiste eines Hinterhofs „Schritt für Schritt ins Paradies“. Auch Daniela Heller hatte keinen Bezug zum Ursprungsmaterial, setzte aber die Stimmung um, die der Song „Der Traum ist aus“ auf einer heutigen Party auslösen könnte, und macht daraus ein dunkelblaues Nacht-Szenario mit anschließendem Sonnenaufgang.

1972 ist so lange her, dass es kaum Zeichner*innen diese Phase bereits als politisch denkende und aktive Jungerwachsene miterlebt haben. Dennoch sind revolutionäre Gefühle auch heute ein Antrieb. Wie bei dem jungen Team Sheree Domingo und Rahel Suesskind. Sie finden „diese rotzige ‚Auf’s-Maul‘-Mentalität so stark“ und erkennen in „Paul Panzers Blues Parallelen zur heutigen Gig-Economy à la Uber oder Gorillas“, und deswegen haben ihre Protagonisten (ausgerechnet Hunde!) auch eine gute Zeit mit geklautem Essen vor ihrer Südsee-Tapete, fahren im knallroten Auto des Chefs und schießen ihm in den Kopf, knallbunt und rau.

Es gibt tatsächlich zwei Fast-Zeitzeug*innen, die noch die Auswirkungen der linken Umsturz-Versuche in den 80ern miterlebt haben. Uli Lust zum Beispiel war eine Wiener Punkette, „Keine Macht für Niemand“ war das Motto ihrer Jugend, und sie lebte mit 17 in einem besetzten Haus. Statt aber historische Erlebnisse abzubilden übersetzt sie das Ganze in die Utopie einer Revolte von Tieren aus der Massenhaltung. Sie sagt, das Comicmachen zum Song sei eine neue synästhetische Erfahrung für sie. Die Berlinerin Bianca Schaalburg gibt ihre persönlichen Eindrücke von der ausufernden 1. Mai-Demo 1987 wieder, die sie an einem andern Ort der Stadt parallel miterlebte. Zu „Die letzte Schlacht gewinnen wir“ zeichnet sie eine Gruppe Frauen, die an den gefährlichen Plätzen des Aufruhrs durch Berlin laufen. Ziemlich bunt treibt es Jan Soeken mit „Mensch Meier“, der bei ihm Schnauzer und Vokuhila trägt und tanzend in der U-Bahn aufmischt, als der Kontrolleur seine Fahrkarte sehen will.

Vergleichmöglichkeiten bietet das Bonusmaterial: Rio Reiser selbst hat „Mensch Meier“ als recht ordentlichen Comic gezeichnet; der Sänger und damaliger Manager Nikel Pallat entwarf einen ulkig-originellen Cartoon zu „Allein machen sie dich ein“ – beides erschien in der bandeigenen „Guten-Morgen-Zeitung“. Als Intro zu allen Kapiteln gibt es kurze Zitate aus der TSS-Riege, dazu Kommentare der Zeichner*nnen. Die meisten Beiträge sind komplette farbig, der von Reinhard Kleist spielt mit einer Akzentfarbe, die den Werdegang eines roten T-Shirts markiert, nur Michael Jordans („Komm, schlaf bei mir) ist schwarz-weiß. Eine bunte, zeitlose Mischung also.

Gunther Buskies, Jonas Engelmann (Hg.): Keine Macht für Niemand. Ein Ton Steine Scherben Songcomic • Ventil Verlag, Mainz 2022 • 128 Seiten • Hardcover • 25,00 Euro

Imke Staats hat in Hamburg Kommunikationsdesign studiert, ist freie Illustratorin und Autorin (u. a. Missy, taz, Folker), Schnellzeichnerin, Konzertzeichnerin und seit 2012 Kursleiterin für Zeichen-/Comic- und andere Kreativkurse in Schulen (Dauerbrenner Comic und Zeichnen), Lehrbeauftragte an Schulen.