Generationenvertrag annulliert

In ihrer neuen Mini-Serie „Little Monsters“ wechseln Jeff Lemire und Dustin Nguyen das Genre und lassen Vampirkinder durch postapokalyptische Städte streunen.

Eine menschenleere Stadt in Ruinen, irgendwann in der Zukunft. Hier leben acht Kinder komplett auf sich allein gestellt – Romie, Yui, Billy, Vickie, Lucas, Bats und die Zwillinge Ronnie und Raymond. Sie ernähren sich in erster Linie von Ratten. Sie brauchen ihr Blut. Denn die Kinder sind allesamt Vampire. Man vertreibt sich die Zeit, spielt Spiele, schreibt Songs oder bemalt Häuserwände. Seit Jahren, Jahrzehnten oder Jahrhunderten. Ihr „Revier“ verlassen die acht nicht, denn sie warten auf die Rückkehr der „Alten“, Erwachsene, die sie vor langer Zeit verlassen haben. Eines Tages entdeckt Billy einen verletzten, blutenden Menschen in den Trümmern eines Hauses. Sofort erwacht sein Vampir-Instinkt und er tut, was Vampire eben so tun. Nichtsahnend, dass er damit die Harmonie innerhalb der Gruppe nachhaltig aus dem Gleichgewicht bringen wird. Und dann ist da noch das Mädchen Laura, das ebenfalls in der Stadt auftaucht…

In ihrer neuen Serie „Little Monsters“ tauscht das „Descender“/„Ascender“-Team Jeff Lemire und Dustin Nguyen das Genre: Science Fiction gegen Horror. Ihre Geschichte handelt von Vampirkindern vor dem Hintergrund eines dystopischen Szenarios. Und wie so oft erweist sich Lemire als Erzähler, der einerseits schnell zur Sache kommt, dabei gradlinig und flüssig erzählt und dennoch auch mit regelmäßigen Cliffhangern als Stilmittel dem Leser und der Leserin die Story nach und nach enthüllt. Häppchenweise versteht sich, was dann erneut Fragen aufwirft und viele Episoden zu wahren Pageturnern macht. Die acht Vampir-Kinder verschiedenen Alters (sowohl was ihre Entwicklungsstufe betrifft als auch den Zeitpunkt, an dem sie zu Vampiren wurden, was immer wieder in kurzen Rückblenden gezeigt wird) und ihre unterschiedlichen Charaktere lernen wir behutsam kennen – immer wieder zeigen Textkästchen, mit wem wir es gerade zu tun haben. So ist beispielsweise Romie introvertiert, Yui und Lucas (die Ältesten in der Gruppe, sie sammelt Bücher und er spielt Gitarre) schon fast erwachsen und vernünftig und die Zwillinge kindlich fies und skrupellos. Die Entdeckung des Menschen bringt dann wortwörtlich frisches Blut in die Gruppe und zerstört dabei gleichzeitig deren Gefüge.

Bild aus „Little Monsters“ (Splitter Verlag)

Trotz des innovativen Ansatzes hält sich Lemire an Genre-Regeln. So verbergen sich die Kinder ganz nach Vampirart tagsüber vor der Sonne und sind nur nachts aktiv. Sie altern nicht, bleiben ewig Kind, ab dem Moment als sie zu Blutsaugern wurden. Vieles über die Geschichte der acht bleibt noch im Dunkeln, aber da die Reihe mit Band 2 schon endet, können wir gespannt sein, ob die „Alten“ zurückkehren, wie weit der Konflikt als „Herr der Fliegen“-Motiv innerhalb der Gruppe eskaliert und was die Begegnung mit Menschen noch an dramatischen Folgen nach sich zieht.

Dustin Nguyen legt seinen Zeichenstil hier anders an. Er verzichtet (bis auf die mit abgedruckten Cover der US-Hefte) auf die aus „Descender“ und „Ascender“ gewohnte, mitunter sparsame wie elegante Aquarelltechnik zugunsten von hartem Schwarz-Weiß, das durch Grauraster aufgelockert und vertieft wird. Als einzige Farbtupfer dienen einmal die Graffiti und Zeichnungen Romies an den Hauswänden und dann natürlich das Blut, das in knalligem Rot stets hervorsticht. Was insgesamt eine kühle, immer bedrohliche Atmosphäre schafft. Die Serie wird bei Image Comics in den USA im Mai mit Heft 13 beendet sein. Auf den entsprechenden zweiten Sammelband müssen wir daher leider noch etwas warten.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Jeff Lemire (Autor), Dustin Nguyen (Zeichner): Little Monsters Band 1 • Aus dem Englischen von Bernd Kronsbein • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 152 Seiten • Hardcover • 25,00 Euro

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.