„Das Kino, das ich mit zur Welt gebracht habe“ – Die Filmpionierin Alice Guy

Auszug aus dem Vorwort der soeben beim Splitter Verlag erschienenen Comicbiografie „Alice Guy. Die erste Filmregisseurin der Welt“ (hier die Rezension auf Comic.de), die vor wenigen Tagen für einen Eisner Award nominiert wurde:

„Es gibt nichts im Zusammenhang mit der Inszenierung eines Films, was eine Frau nicht ebenso leicht wie ein Mann machen könnte, und es gibt keinen Grund, warum sie nicht jede technische Seite dieser Kunst vollkommen meistern könnte. Die Technik des Theaters ist von so vielen Frauen gemeistert worden, dass sie ebenso gut als ihre Domäne wie die des Mannes betrachtet wird, und die Bearbeitung von Theaterstücken für den Film entrückt dies in keiner Weise ihrer Sphäre. Die Film- wie die Theatertechnik ist ein geeignetes Feld für weibliche Aktivitäten.“
(Alice Guy, 1914)

Alice Guy wurde am 1. Juli 1873 in Saint-Mandé östlich von Paris geboren und starb am 24. März 1968 in Wayne, New Jersey. In den Jahren dazwischen, vor allem in der ersten Hälfte ihres Lebens, machte sie Filmgeschichte. „Be Natural“, Pamela B. Greens Dokumentarfilm über Alice Guy aus dem Jahr 2018, beginnt mit dem Satz: „Am Anfang des Kinos steht eine Frau.“ Zu pathetisch? Entscheiden Sie selbst:

Alice Guy war die erste Filmregisseurin der Welt, ebenso die erste Produzentin und Drehbuchautorin. Sie inszenierte und produzierte an die 500 Filme, agierte in einigen frühen davon auch in Nebenrollen. Bis 1907 war sie Produktionsleiterin der französischen Firma Gaumont, die zwischen 1905 und 1915 das größte Studio der Welt besaß (sämtliche Produktionen bis 1905 können Alice Guy zugeschrieben werden, erst danach kamen Regieassistenten ins Unternehmen). 1910 gründete sie in New York die Solax, ihr eigenes Studio, in dem mehr als 300 Filme aller Couleur produziert wurden. Im März 1896, da war sie 23, drehte Alice Guy mit „La Fée aux Choux“ (Die Fee der Kohlköpfe) den vermutlich ersten Spielfilm der Filmgeschichte. 1906 realisierte sie die Großproduktion „La Vie du Christ“ (Das Leben Christi) mit über dreihundert Statistinnen und Statisten. Von 1900 bis 1906 inszenierte sie ca. 100 Phonoszenen und erwies sich damit überdies als Pionierin des Tonfilms. Sie gehörte zu den ersten, die mit Tricktechnik experimentierten, verwendete Split-Screens, Zeitraffer und Zeitlupe, Stopptrick, Doppelbelichtung und Rückwärtsbewegungen. Und Alice Guy war kühn bei der Wahl ihrer Motive in einer Zeit, in der die Rollenzuschreibungen der Geschlechter als Naturgesetz galten. Damals hätte sich niemand sonst getraut, einen Film „J’ai un hanneton dans mon pantalon“ (Ich habe einen Maikäfer in meiner Hose) zu nennen. Sie schon. In ihrer Komödie „Les Résultats du Féminisme“ (Ergebnisse des Feminismus) von 1906 sehen wir häusliche Szenen, in denen Männer bügeln und Kinder betreuen, während die Frauen in Macho-Posen Zigarre rauchen, Zeitung lesen und sich bedienen lassen. Außerhalb der heimischen vier Wände zeigt sich dasselbe Szenario: Frauen versuchen mit rüder Selbstgefälligkeit Männer zu verführen, selbige nehmen Reißaus, wenn sich ihnen auf der Straße Frauen nähern. In ihren amerikanischen Filmen behandelte Alice Guy oft politische Themen: Antisemitismus, Einwanderung, Arbeitskämpfe. Als sie 1912 in der Planungsphase des Films „A Fool and His Money“ ihren weißen Stars mitteilte, dass sie für die Produktion mit schwarzen Schauspieler*innen zusammenarbeiten würden, stieß sie auf einhellige Entrüstung: Das sei schlecht für die Karriere. Angewidert von diesem Rassismus, ließ sich Guy nicht beirren und drehte den ersten Film mit rein afroamerikanischem Cast.

Konsultiert man ältere wie neuere filmhistorische Grundlagenwerke, wird man darin wenig bis nichts über Alice Guys Pionierleistungen finden. Kein Wort in Ulrich Gregors und Enno Patalas‘ „Geschichte des Films“, haufenweise Unterschlagenes und Männern Zugeschriebenes in Georges Sadouls „Geschichte der Filmkunst“ (der seine Fehler später zumindest teilweise einräumen sollte, nachdem Guy für Aufklärung sorgte), nichts in der fünfbändigen „Fischer Filmgeschichte“, ein lapidarer Satz in der von Geoffrey Nowell-Smith herausgegebenen „Geschichte des internationalen Films“. Dafür gibt es viele Gründe: Die ersten Kinofilme waren nicht mit Credits versehen, Mitwirkende zu identifizieren, bedeutet akribisches, jahrelanges Stöbern in Dokumentenbergen. Das Copyright für Filme lag in den Anfängen des Films noch in weiter Ferne, und die unzähligen öffentlichen Vorführungen in den Pariser Sälen verbreiteten keineswegs nur den Zauber einer neuen Kunst, sondern aus praktischer Sicht eben auch Ideen, die, einmal vorgeführt, hemmungslos geklaut und modifiziert wurden. Das Gros von Guys Filmen ist nicht archiviert und für immer verschollen (ihren zweiten Lebensabschnitt hatte sie vergeblich damit verbracht, die Werke ausfindig zu machen). Und der wichtigste Aspekt: Die Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts wurde vornehmlich von Männern geschrieben, die frühe in Ermangelung vieler seinerzeit kursierender Werke außerdem in erster Linie als Technikgeschichte. Das musste Guy bereits zu Lebzeiten schmerzlich erfahren. Die erste große Firmenchronik von Gaumont wurde, in den Worten der französischen Filmemacherin Claire Clouzot, „so geschrieben, dass man nur noch ihren bekanntesten Vertreter, Louis Feuillade, feiern kann“. Große Genies und Industrielle mit gutem Geschäftssinn, umringt von willfährigen Zulieferern und Ausführenden; Alice Guy, kreativer Mittelpunkt und Motor des Unternehmens, wird in Léon Gaumonts Erinnerungen zur Randerscheinung degradiert.

Für ihre Autobiographie, die sie 1953 beendet, findet Alice Guy keinen Verlag. Eine alte französische Regisseurin, die von der Zeit und ihrer Rolle erzählt, als die Bilder laufen lernten? Ohne Schlüpfrigkeiten aus der Welt der Stars? Wer soll das lesen? Die Memoiren erscheinen erst nach ihrem Tod. Und sie eröffnet das erste Kapitel lakonisch: „In einer Zeit, in der die Retrospektiven in Mode gekommen sind, finden vielleicht auch die Erinnerungen der ersten Filmregisseurin in der Öffentlichkeit einigen Gefallen. Ich will kein literarisches Werk schreiben, sondern möchte die Leser einfach unterhalten und ihr Interesse an ihrem großartigen Freund – dem Kino, das ich mit in die Welt gesetzt habe – durch Anekdoten und persönliche Erinnerungen gewinnen.“ Der letzte Absatz lautet: „War es ein Erfolg oder ein Misserfolg? Ich weiß es nicht. Ich habe achtundzwanzig Jahre ein sehr intensives und interessantes Leben gelebt. Wenn mich meine Erinnerungen manchmal ein wenig melancholisch stimmen, dann denke ich an die Worte Roosevelts: Es ist hart zu scheitern, doch es ist schlimmer, es niemals versucht zu haben.“

Catel Muller und José-Louis Bocquet haben für diese Comicbiographie viel Intensives und Interessantes aus Alice Guys Leben zusammengetragen, sie liefern nicht zuletzt ein Update des gegenwärtigen Forschungsstands. Filmgeschichte ist ein andauernder Prozess der Relativierung und Neubewertung, und mit den Mitteln der neunten Kunst versuchen die beiden, an einige Leerstellen der siebten zu erinnern. Sie verhelfen Alice Guy zu ihrem Recht und führen uns in eine Epoche zurück, als das Filmemachen noch nicht auf Traditionen des Erzählens aufbauen konnte, sondern dessen Regeln überhaupt erst einmal entdecken musste. Nach diesem Comic wird niemand mehr vergessen, dass wir dies nicht allein Méliès und den Gebrüdern Lumière verdanken.

Catel Muller (Zeichnerin), José-Louis Bocquet (Autor): Alice Guy. Die erste Filmregisseurin der Welt • Aus dem Französischen von Antje Riley • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 400 Seiten • Hardcover • 45,00 Euro

Sven Jachmann schreibt als freier Autor über Comic, Film, Literatur mit den Schwerpunkten Politik und Phantastik, ist Herausgeber der Magazine Comic.de und Filmgazette.de sowie Redakteur beim Splitter Verlag.