in den USA tobt seit Jahren ein von Rechten angepeitschter Kulturkampf. Eine Konstante der letzten Jahre in den USA im aufgeheizten politischen Klima sind die sogenannten „Book Bannings“, die sich seit drei Jahren zum Tagesgeschäft entwickeln, nachdem einige konservative Staaten Gesetze erlassen haben, durch die „besorgte Bürger“ Tausende von Büchern an Pranger stellen und aus Schulen und Bibliotheken entfernen lassen können. Kürzlich wurde der Bericht über die meist zensierten US-Bücher 2023 veröffentlicht – zum dritten Mal in Folge führt die Graphic Novel „Genderqueer“ von Maia Kobabe die Liste an. Die queere Comic-Autobiografie steht im Zentrum der „Book Bannings“-Debatten und ist inzwischen synonymisch für politische Zensur und die christlich-konservativen Kampagnen gegen trans* und andere marginalisierte Gruppen. (Lara Keilbart berichtete in Deutschlandfunk Kultur.) Nun ist das Werk auf Deutsch bei Reprodukt erschienen.
Als „Genderqueer“ 2019 in einem US-amerikanischen Kleinverlag erschien, war Maia Kobabes Jugenderinnerung und Comickontemplationen über sexuelle Identität und die stetige Suche nach sich selbst ein kleiner Überraschungserfolg. Ein paar Tausend Bücher gingen über die Ladentheken, Bibliotheken nahmen die Indie-Graphic-Novel in den Bestand und über Mund-zu-Mund-Propaganda erreichte der Comic viele Jugendliche aus der LGBTQ+-Community. So hätte es auch bleiben können, aber 2021 geriet das Buch ins Visier republikanischer Politiker*innen als Teil der Anti-Woke-Kampagne im Vorfeld der mid terms, vor allem der derzeitige Gouverneur von Virginia, Glenn Youngkin, machte Bücherverbote zum zentralen Element seines Wahlkampfs. Ein Buch – zumal ein Comic, ein Medium, das in den Augen vieler konservativer Kreuzritter*innen der Jugend vorbehalten sei –, das mit „Gender“ und „Queer“ gleich zwei politische Reizwörter im Titel hat, war prädestiniert für Anti-„Woke“-Agitation. Zuletzt hatte Ron DeSentis, der Gouverneur von Florida und zwischenzeitlicher Anwärter für das höchste politische Amt der USA, während einer Fernsehdebatte Anfang 2024 eine Seite aus „Genderqueer“ in die Kamera gehalten und dem Buch „Pornografie“ vorgeworfen. Die konstanten Attacken haben „Genderqueer“ zu einem Bestseller in den USA gemacht, aber eben auch aus vielen Bibliotheken verbannt und so vielen sozial schlecher gestellten Leser*innen unzugänglich. „Bücherverbote schaden nicht dem Buch oder dem/r Autor*in“, so Maia Kobabe 2022 in einem Interview mit dem Magazin SLATE. „Die Menschen, denen Bücherverbote am meisten schaden, sind die marginalisierten Leser*innen der Gemeinden, in den die Verbote ausgesprochen wurden.“
„Genderqueer“ ist eine der erfolgreichsten Comicautobiografien der letzten Jahre, ein Befreiungsschlag, mit dem Maia Kobabe nicht nur die eigene Geschichte und Identitätsfindung aufzeichnet, sondern auch einen immens wichtigen Ratgeber zur Geschlechtsidentität für Menschen auf der Suche nach sich selbst und ihrem Platz in der Welt geschaffen hat.
Maia Kobane spricht im folgenden Presse-Interview über „Genderqueer“, Eltern von nichtbinären Kindern, die Suche nach sich selbst, die „Book Bannings“ in den USA und Bibliotheken als Zufluchtsorte für marginalisierte Jugendliche.
Liebe Maia, danke, dass du dir ein wenig von deiner knappen Zeit für uns abzwackst. Bevor wir uns deiner viel diskutierten Graphic Novel „Genderqueer“ zuwenden, wollte ich gerne ein bisschen mehr über dich erfahren. Wie bist du auf den Comic gekommen?
Meine erste Erinnerung bezüglich Comics ist die an meinen Vater, sie er die Sunday Funnies in der Zeitung auf dem Boden ausbreitete und sie mir laut vorlas, wobei er auf jedes Panel einzeln zeigte. Ich habe Legasthenie und erst mit 11 Jahren Lesen gelernt, aber Comics haben mich mit ihrer Kombination aus Worten und Bildern sofort interessiert. Sobald ich lesen konnte, lieh ich mir in der Bibliothek große Sammlungen von Zeitungsstrips aus, vor allem „Calvin und Hobbes“, „Get Fuzzy“, „Mutts“, „Far Side“ und „Zits“. Später entdeckte ich in der Bücherei Manga und begann, jede Reihe zu lesen, die ich in die Finger bekam. Ich glaube, ich habe als Teenager angefangen, Selbstporträts zu zeichnen, das war auch der Zeitpunkt, an dem ich anfing, kleine Comics über die Dinge zu zeichnen, die meine Freunde sagten und taten.
„Genderqueer“ ist deine erste buchlange Comicerzählung. Wie kam es zu diesem Projekt und warum wolltest du die Geschichte in diesem Format erzählen?
Der erste Entwurf von „Genderqueer“ war eine Reihe kleiner schwarz-weißer Tagebuch-Comics, die ich auf Instagram gepostet habe – man kann sie immer noch finden, wenn man bis ins Jahr 2016 zurückscrollt. Der Zweck dieser Comics war es, mich meinen Freunden und meiner Familie gegenüber als nichtbinär zu outen. Ich habe mich in der Highschool als bisexuell geoutet, aber mein Coming-out als nichtbinär fühlte sich viel schwieriger und komplizierter an. Erst mit Mitte zwanzig fing ich an Leute zu bitten, nichtbinäre Pronomen für mich zu verwenden. Obwohl meine Familie sehr verständnisvoll war, fiel es mir schwer zu erklären, warum die neuen Pronomen so wichtig für mich waren. Ich beschloss, mich hinzusetzen und darüber zu schreiben, weil ich wollte, dass die Menschen in meinem Leben mein wahres, authentisches Ich kennenlernen.
Du hast mal gesagt, dass du „Genderqueer“ in erster Linie für deine Eltern und Geschwister geschrieben hast, die alle in deinem Comic auch wichtige Parts spielen. Ich denke, dass „Genderqueer“ ein wichtiges Buch für alle Eltern sein kann, ob ihre Kinder nichtbinär sind oder nicht. Es macht einen empfänglicher für die inneren Welten von jungen Menschen in Lebensphasen von großen Umbrüchen und Unsicherheiten. Welche Rolle haben deine Eltern während dieser Phase für dich gespielt und was würdest du Eltern raten, die Kinder haben, die sich in einer ähnlichen Situation wie du befinden?
Meine Eltern haben mich immer sehr unterstützt, sowohl in meiner künstlerischen Karriere als auch in meiner queeren Identität. Anderen Eltern würde ich raten: Versucht keine Erwartungen daran zu stellen, wer eure Kinder sein werden, wenn sie erwachsen sind. Lasst sie sein, wer auch immer sie sein werden, und zelebriert das Ergebnis, auch wenn es etwas ist, das ihr euch vorher nicht vorstellen konntet. Liebt das Kind, das ihr habt, nicht das Kind, das ihr euch vor der Geburt vorgestellt habt.
„Genderqueer“ erzählt von der Suche nach der eigenen Identität und zeigt, wie komplex und diffus dieser Prozess sein kann. Große Teile des Buchs sind dieser Suche gewidmet und dem Frust, immer wieder festzustellen, dass bestimmte Geschlechtsnormen einfach nicht zu einem passen. Könntest du uns ein bisschen über diesen Aspekte deiner Arbeit erzählen? Wie schwierig war es, Comicbilder für diese Suche zu finden?
Ich beschloss, meine innere Reise in Bilder zu übertragen, weil es mir zu schwerfiel, sie in einem Gespräch zu erklären. Comics sind das Medium, in dem ich mich am eloquentesten fühle. Ich zeichne, seit ich alt genug bin, einen Stift zu halten. Ich habe mich immer der Kunst zugewandt, um meine Gefühle und Erfahrungen zu verarbeiten und zu erforschen. Bestimmte Szenen waren mitunter eine Herausforderung, aber letztendlich habe ich mich für Comics als Medium für meine Memoiren entschieden, weil ich das Gefühl hatte, dass dies der einfachste Weg war, um sie zu erzählen.
Gegen Ende von „Genderqueer“ erzählst du über eine Situation mit der Mutter von einer/m deiner Zeichenschüler*innen, die dich drauf ansprach, wie froh sie ist, dass ihre Tochter ein weibliches Vorbild in dir hätte. Ein Feedback, über das sich jede/r Lehrer*in freut, aber bei dir schwingt auch Traurigkeit mit: Du warst vor den Schüler*innen und ihren Eltern nicht geoutet und konntest der Mutter nicht sagen, dass du selbst nie nichtbinäre Vorbilder hattest. Würdest du sagen, dass sich das für die Jugendlichen von heute geändert hat?
Ich bin froh, dass es immer mehr nichtbinäre Vorbilder gibt, sowohl in Büchern und Medien als auch im Alltag. Aber ehrlichgesagt wünschte ich mir, es gäbe eine*n nichtbinäre*n oder trans* Lehrer*in an jeder Schule, damit geschlechlich nichtkonforme Kinder sehen können, wie ein*e trans Erwachsene*r aussieht und wie normal das ist. Ich hatte, bis ich Mitte zwanzig war, keine*n trans Lehrer*in, und das hat mein Leben komplett verändert. Ich wünschte, ich hätte das gehabt, als ich jünger war.
„Genderqueer“ war das meist zensierte Buch 2021 und 2022 in den USA. Wann hast du das erste Mal davon erfahren, dass dein Comic im großen Stil angegriffen und verboten wird? Wie gehst du mit diesen Attacken um?
Dass „Genderqueer“ angefochten worden war, hörte ich zum ersten Mal im Herbst 2021, kurz vor den US-Zwischenwahlen. Mein Buch wurde schon oft angefochten, in der Regel von Leuten, die behaupteten, es sei zu sexuell explizit für Schulbibliotheken. Obwohl viele der Leute, die mein Buch anfangs ablehnten, auch damit angaben, es nicht einmal gelesen zu haben. Auf persönlicher Ebene bin ich mit den Herausforderungen fertig geworden, indem ich mir vor Augen führte, dass die Leute, die mein Buch zensieren wollen, nicht die Zielgruppe sind, für die es bestimmt ist, und indem ich mich von ihnen nicht von meiner kreativen Tätigkeit ablenken ließ. Auf einer größeren Ebene bin ich zu einer Verfechterin gegen Zensur und für die Verteidigung der Freiheit des Lesens, der Informationsfreiheit und der Redefreiheit geworden.
In der „Book Bannings“-Debatte sind es auffällig oft Comics, die auf den schwarzen Listen der rechts-konservativen Moralaposteln landen, zuletzt auch „Maus“ von Art Spiegelman. Wie kommt das?
Amerikas Geschichte der Comicverbote ist lang und reicht zurück bis vor den Comics Code. Ich glaube, Comics sind anfälliger für Zensur, weil sie Bilder enthalten; viele Bilder können auf eine emotionalere Weise wirken als nur Worte. Heutzutage ist es auch einfacher, mit einem Bild auf den sozialen Medien zu trenden als mit einem Textabschnitt.
Du hast lange Jahre als Bibliothekar*in gearbeitet und sprichst immer wieder öffentlich davon, wie wichtig dir Bibliotheken sind. Aktuell sind Büchereien in Amerika ja eine der Fronten für die sogenannten „Culture Wars“, und viele Bibliothekar*innen werden unter Druck gesetzt, LGBTQ+-Publikationen aus ihrem Sortiment zu nehmen. Was steht hier auf dem Spiel?
In meiner Jugend suchte ich verzweifelt nach queeren Geschichten jeglicher Art und durchsuchte die Bibliothek ständig nach Titeln, in denen eine queere, transsexuelle oder nichtbinäre Figur vorkam, mit der ich mich identifizieren konnte. Die Bibliothek war für mich als Teenager ein echter Zufluchtsort. Ich fing an, ehrenamtlich in meiner örtlichen Bibliothek zu arbeiten, nur damit ich mehr Zeit dort verbringen konnte. Ich hatte so viele Fragen, unter anderem, welche Art von Beziehungen ich in der Zukunft haben würde, und ich suchte in Büchern nach Antworten. Ich hatte großes Glück, dass ich in einer sehr liberalen und aufgeschlossenen Gegend aufwuchs. In meiner Bibliothek verteilten die Bibliothekar*innen Lesezeichen mit Vorschlägen für queere Titel, und ich begehrte diese Listen. Außerdem wusste ich, dass es in Ordnung war, queere Bücher mit nach Hause zu nehmen und sie offen vor meinen Eltern zu lesen. Ein großer Teil der angefochtenen Bücher (in den USA) sind LGBTQ+-Titel. Das ist besonders bedenklich, weil junge queere Menschen oft keinen erwachsenen queeren Mentor haben, zu dem sie in ihrer unmittelbaren Familie, in der Schule oder in anderen Gemeinschaften aufschauen können. Queere Menschen müssen sich fast immer an externe Quellen wenden, um Informationen über ihre Identität, ihren Körper, ihre Gesundheit und ihre Zukunft zu erhalten.
Vor einigen Wochen gab es in US-rechtskonservativen Medienzirkeln einen Aufruhr, als Präsident Biden den Trans Day of Visibility verkündete und dieser zufällig auf Ostern fiel. Es scheint, dass die Ablehnung von Trans*-Identität zu einem zentralen Element im republikanischen Wahlkampf geworden ist. Könntest du uns zum Schluss noch über das aktuelle politische Klima in den USA erzählen? Wie steht es um die Rechte und die Sicherheit der marginalisierten Gruppen? Und siehst du auch positive Entwicklungen?
Der Trans Day of Visibility in den Vereinigten Staaten wurde 2009 ins Leben gerufen und findet seither jedes Jahr am 31. März statt. Er wird nicht verschoben. Es wäre zutreffender zu sagen, dass Ostern dieses Jahr auf den Trans Day of Visibility fiel als umgekehrt. Es ist definitiv eine schwierige Zeit für trans* Personen in den USA. 42 der 50 Bundesstaaten haben mindestens ein Anti-Trans*-Gesetz eingeführt, das die Bürgerrechte von trans* Personen in diesem Staat in irgendeiner Weise einschränken würde. Zum jetzigen Zeitpunkt sind 23 dieser Gesetze bereits verabschiedet worden. In einigen Staaten ist die geschlechtsangleichende Gesundheitsversorgung für Minderjährige inzwischen verboten und für Erwachsene bedroht. Einige Staaten drohen sogar damit, transsexuelle Kinder ihren Eltern wegzunehmen, wenn deren Eltern die Transition unterstützen. Aber gleichzeitig erklären sich andere Staaten zu Zufluchtsorten für transsexuelle Menschen, und mehr und mehr Menschen outen sich jeden Tag. Ich bin voller Hoffnung, denn die Trans*-Community gehört zu den leidenschaftlichsten, kreativsten, klügsten, erstaunlichsten und fürsorglichsten Menschen, die ich je kennengelernt habe. Ich wünschte, die Dinge wären einfacher für uns, aber selbst wenn sie schwieriger werden, werden wir nicht wieder zurück in die Verborgenheit gehen.
Maia Kobane: Genderqueer – Eine nichtbinäre Autobiographie • Aus dem amerikanischen Englisch von Matthias Wieland • Reprodukt, Berlin 2024 • Softcover • 240 Seiten • 20,00 Euro