Opa erzählt mal wieder

Gewaltverliebtes Horrorspektakel im Westernkleid oder eine Auseinandersetzung mit nationaler Mythenbildung? Garth Ennis‘ Comic „Streets of Glory“ steht zwischen den Saloonstühlen.

Garth Ennis ist ein Autor für Männergenres: Krieg, Western und Horror, denn dass diese geschlechtsspezifische Genrepräferenz nicht nur ein Klischee ist, haben medienwissenschaftliche Studien schon belegt. Neben den Erfolgsserien „Preacher“ (1995-2000) und „The Boys“ (2006-2012) ist der irische Autor für seine „War Stories“ (2001-2017) und seine Arbeit an der Zombieserie „Crossed“ (2008-2015) bekannt, wenngleich die 1990er sicherlich sein Höhepunkt gewesen sind. Für seine „Preacher“- und „Hellblazer“-Szenarien wurde er mehrfach für den Eisner Award nominiert bzw. mit einem ausgezeichnet. „Streets of Glory“ erschien zwischen Oktober 2007 und Oktober 2008 in sechs Ausgaben bei Avatar Press.

Die Rahmenhandlung dieses blutrünstigen Westerncomics spielt im Jahr 1959 in einem Diner im ländlichen Arizona. Umgeben von zeittypischen Schachbrettmustern auf den Fliesen, der Inneneinrichtung und Kleidung trinkt der weißhaarige Peter seinen Kaffee und plaudert mit der Bedienung – eine sehr einseitige Unterhaltung, denn Peter hat viel zu erzählen, während die namenlose Servicekraft zuhört. Und wir Leser*innen hören mit.

60 Jahre zuvor, im Jahr 1899, besucht Peter seinen Bruder Frank in Montana und staunt über die Schönheit der unberührten Landschaft: „Kein Wort haste gesagt! All die Briefe … und kein Wort darüber, wie riesig alles ist!“ Die Berge beeindrucken ihn, aber rasch wird seine Bewunderung der Natur abgelöst von den Schrecken der Wildnis, als die beiden Brüder überfallen werden. Frank wird bestialisch getötet, und während dieses Kampfes (genauer: während dieses blutrünstigen Horror-Gemetzels) bekommen wir Leser*innen einen Vorgeschmack auf das, was noch kommen wird. Peter wird von einem Fremden gerettet, der die Angreifer mit derselben Härte richtet, mit der sie zuvor für ein Blutbad sorgten. Bei dem unverhofften Retter handelt es sich um Joe Dunn, einen ehemaligen Oberst der amerikanischen Armee, der in den 1860er Jahren im amerikanischen Sezessionskrieg kämpfte und nun wieder an den Ort seiner Jugend zurückkehrt.

In Gladback lebt aber nicht nur die Mutter seiner Tochter, wobei er letztere gar nicht kennt und erstere seit 20 Jahren nicht gesehen hat, sondern auch der strebsame und ruchlose Eisenbahnunternehmer Charles Morrison, „der reichste Mann im Land, heißt es“. Sympathisch ist er nicht, und dass die Kleinstadt vor dem wohlhabenden Mann und seiner Entourage zusammenzuckt, bleibt den Leser*innen nicht verborgen. Als eine Familie brutal ermordet wird, wird schnell klar, dass Red Crow dafür verantwortlich ist, ein Native American, der grund-, furcht- und wahllos tötet. Niemand außer Joe Dunn kommt in Frage, um sich auf die Suche nach diesem menschgewordenen Monster zu machen, aber was er im Laufe der nächsten Ereignisse erfährt, ist noch monströser als Red Crow.

„Streets of Glory“ (Dantes Verlag)

„Streets of Glory“ ist ein Western, in dem die Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis im Vordergrund steht. Joe Dunn ist das Relikt einer überkommenen Vergangenheit, ein Mann, der zu spät zu seiner Familie heimkehrt und dessen Werte nicht mehr allseits akzeptiert werden. Exzessive Gewalt ist für ihn ein gerechtfertigtes Mittel, wenn sie richtig eingesetzt wird. Er traut seinem Instinkt, während Charles Morrison kühl berechnet, was ihm zum Vorteil dienen könnte. Der Eisenbahnbau ist auch im Westernfilm ein beliebtes Element, um einerseits die fortschreitende Technologisierung bildhaft zu machen, andererseits aber auch die damit einhergehende Korrumpierung ursprünglicher Ehrlichkeit. Der zentrale Konflikt in „Streets of Glory“ besteht zwischen Joe Dunn und Charles Morrison bzw. zwischen Tradition und Moderne, Ursprünglichkeit und Zivilisation. Besonders sichtbar wird dieser Zwiespalt auch in den wenigen Szenen, in denen motorisierte Fahrzeuge zu sehen sind und diese das Unverständnis der alten Männer hervorrufen.

Es stellt sich (Spoiler-Alarm) heraus, dass Red Crow von Morrison beauftragt wurde, um Angst und Schrecken unter den Bewohnern der Stadt zu verbreiten, weil er eine Eisenbahntrasse plant, die mitten durch das Stadtgebiet verlaufen soll. Menschen stören in seinem kapitalistischen Weltbild nur. Dunn ist ein althergebrachter Held, ein uneigennütziger Gentleman. Und gerade der zivilisierte Morrison ist es, der sich der mythischen, vormodernen Figur des wilden Indianers bedient, um eiskalt Profit daraus zu schlagen. Nicht zuletzt stellt Ennis zwei verschiedene Formen von Gewalt gegenüber.

Mehrere Lesarten ergeben sich aus diesem Setting: Früher, als das Wünschen noch half und noch keine Handyklingeltöne beim Waldbaden störten, war die Welt einfach noch in Ordnung, denn Männer waren noch Männer, und überhaupt war das Gras grüner und so weiter. In dieser Form liest sich „Streets of Glory“ als eine beißende Abrechnung mit der Moderne und eine romantische Verklärung eines unverdorbenen Goldenen Zeitalters. Ennis relativiert aber dieses einfache Weltbild, das so schwarzweiß ist wie das Schachbrettmuster der Fliesen in dem Diner aus dem Jahr 1959: „Wir alle glorifizieren unsere Geschichte, unsere Lieben. Sonst wären die Erinnerungen vielleicht nicht zu ertragen.“ Im Original heißt es: „But we all make glories of our pasts, our loves.“ Man merkt, wie die Übersetzung von Jens R. Nielsen hier versucht, den Bezug zum Titel zu erhalten, denn ansonsten würde man den nur schwer herstellen können.

„Streets of Glory“ (Dantes Verlag)

Denn Straßen sind natürlich noch nie ein Ort des Ruhms gewesen. Wer „auf der Straße“ lebt oder „von der Straße kommt“, kann aber Authentizität für sich beanspruchen. „Streets of Glory“ ist eine Hymne auf das von Dunn verkörperte Echte, das Wahre, das Wirkliche, und es ist fast ein wenig schade, dass Ennis die Rahmenhandlung nur so zaghaft benutzt, um diesen sehr künstlichen Mythos ein wenig zu dekonstruieren. Schließlich lässt sich aus der Story auch eine zugespitzte These herauslesen: Die exzessive Gewalt, die wir bei Dunn und den anderen Männern seiner Generation beobachten, ist im Laufe der Modernisierung keineswegs verschwunden, sondern wurde lediglich transformiert in strukturelle Gewalt und wirtschaftliche Machtverhältnisse. Die violence wurde, so Ennis, lediglich in power überführt. Man kann also in diesem Comic ein gewaltverliebtes Horrorspektakel im Westernkleid sehen oder eine Auseinandersetzung mit nationaler Mythenbildung.

Die Story wurde von Mike Wolfer gezeichnet, der regelmäßig für Avatar Press gearbeitet hat, darunter seine gemeinsam mit Warren Ellis geschaffenen Comics „Strange Killings“ (2002-04) und „Gravel“ (2007-2010). Seine Zeichnungen sind detailliert, aber die Figuren wirken maskenhaft und unnatürlich. Schön anzusehen ist der Comic wirklich nicht. Die Gore-Szenen wiederum sind mit einiger Kreativität umgesetzt.

Die Ausgabe ist im Vergleich zum Avatar-Original geringfügig verkleinert, erhält darüber hinaus aber auch noch einige Anmerkungen des Übersetzers Jens R. Nielsen. Das kennen Leser*innen der Dantes-Comics bereits und wissen die akribische Recherchearbeit zu schätzen. Der Apparat ist in diesem Fall nicht so ausführlich wie etwa bei der anspielungsreichen „Cinema Purgatorio“-Reihe, aber „Streets of Glory“ benötigt auch nicht so viele weiterführende Informationen. Die Entzifferung der Anmerkungen wird aber leider dadurch erschwert, dass der Band (wie auch das Original) keine Paginierung hat. Dennoch: Ein schöner Service, der es wert ist, nicht einfach überblättert zu werden. Der Comic ermöglicht sehr unterschiedliche Lesarten, und das macht ihn tatsächlich auch lesenswert.

Garth Ennis (Autor), Mike Wolfer (Zeichner): Streets of Glory • Aus dem Englischen von Jens R. Nielsen • Dantes Verlag, Mannheim 2022 • 160 Seiten • Hardcover • 20,00 Euro

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.