„M.O.M.“ und „Clementine“ bereichern die Heldinnenriege der Comics. Eine Mutter kann sich unsichtbar machen, und ein Teenager wehrt sich gegen Zombies.
Spricht man von Superhelden, kann man getrost oft das generische Maskulinum verwenden. Nicht dass es keine Superheldinnen gäbe, im Gegenteil. Aber von Cat Woman und der als feministische Ikone erfundenen Wonder Woman abgesehen hat keine von ihnen je eine Popularität erreicht, die sich mit der ihrer männlichen Kollegen vergleichen ließe. Als Superschurkin hat es immerhin Harley Quinn, die durchgedrehte Freundin des Jokers, zur Kultfigur gebracht.
Als energische Korrektur bisheriger Modelle des Super-Seins betritt nun M.O.M. – abgekürzt für Mother of Madness – die Welt der Comics. Sie ist ein All-Women-Projekt, vom Szenario über die Zeichnungen bis zu allen weiteren Kreativaufgaben. Unter den beiden Autorinnen sticht Emilia Clarke hervor, berühmt geworden als Daenerys Targaryen in der Serie „Game of Thrones“. Ihr Starstatus dürfte dem Comic eine überdurchschnittliche Aufmerksamkeit bescheren.
Die dazugehörige Superheldin M.O.M heißt eigentlich Maya Kuyper und arbeitet, weil sie dringend Geld zum Überleben braucht, bei einem Unternehmen, das gesundheitlich fragwürdige Lebensmittel herstellt. Ihre hochtalentierten Eltern waren in der chemischen und pharmazeutischen Forschung tätig. Nach deren plötzlichem Tod schluckte Maya in suizidaler Absicht eine Überdosis von ihnen hergestellter Pillen, die sie allerdings nicht töteten, sondern ihr Superkräfte verliehen.
Das ist eine ganz klassische Origin-Story, wie sie jeder Supermensch braucht. Ungewöhnlich ist aber nicht nur, dass Maya als alleinerziehende Mutter eines kleinen Sohns lebt, sondern vor allem dass ihre Fähigkeiten an ihren Zyklus gekoppelt sind. Je näher sie ihrer Periode kommt, desto stärker wird sie und vereinigt gleich mehrere sagenhafte Eigenschaften in einer Person: Sie kann sich unsichtbar machen, Flammen werfen, ist superschnell, hat beliebig dehnbare Gliedmaßen und ist so stark, dass sie keiner Schlägerei aus dem Weg gehen muss.
Diese Umdeutung einer ewig als Makel angesehenen weiblichen Befindlichkeit ist originell, ebenso wie der Konflikt, den M.O.M. mit einer größenwahnsinnigen Business-Woman austragen muss, deren Idealbild einer „perfekten Frau“ exakt patriarchalischen Vorstellungen entspricht.
Was den Eindruck trübt, ist aber, dass Clarke und ihre Co-Autorin Marguerite Bennett glauben, ihre feministischen und queeren Ideale überdeutlich vermitteln zu müssen. Dies führt immer wieder zu manifesthaften, teilweise deklamatorischen Aussagen von Figuren, die noch einmal erläutern, was ohnehin schon, war man nicht völlig unaufmerksam, klargeworden ist.
Die Zeichnungen von Leila Leiz ahmen Cliff Chiang, den Zeichner der feministischen Fantasyserie „Paper Girls“, nach, allerdings ohne dessen Klasse zu erreichen. Die Kolorierung ist sehr bunt; den Seitenaufbau kann man, je nach Blickwinkel, dynamisch oder unruhig finden. Sehr schön sind zwei Doppelseiten, die in nach floralen Mustern angeordneten Panels parallel M.O.M.s Aktivitäten als Superheldin sowie die Geburt und das Aufwachsen ihres Sohns schildern.
Keine Superheldin, aber ein Mädchen, das sich in ungewöhnlichen Umständen bewähren muss, ist Clementine, die Hauptfigur von Tillie Waldens gleichnamiger Graphic Novel. Sie ist in der Welt von „The Walking Dead“ („TWD“) angesiedelt, der Zombieserie, die nach fast 16-jähriger Laufzeit 2019 abgeschlossen wurde.
Angesichts deren Erfolgs, der zu Fernsehserien und Computerspielen führte, war absehbar, dass es nach kleiner Pause zu einem Spin-off kommen würde. Überraschend ist jedoch, dass dieser von Tillie Walden stammt, die bislang für anspruchsvolle Comics mit queeren Themen („Pirouetten“, „West, West Texas“) bekannt war. Die Frage ist also: Was kann sie zu „TWD“ beitragen, das über das Aufbereiten von Vertrautem hinausgeht?
Clementine ist eine Halbwüchsige, die, obwohl ihr rechtes unteres Bein nur aus einer Behelfsprothese besteht, allein in der postapokalyptischen Welt unterwegs ist. Nach traumatischen Erfahrungen hat sie kein Bedürfnis mehr nach Gesellschaft. Als sie in einer Amish-Gemeinde Halt macht, schließt sich ihr aber der gleichaltrige Amos an, der auf dem Weg zu einem Berg ist, auf dessen steiler Höhe eine kleine Gemeinschaft angeblich sicher vor den Untoten leben will.
Wie in „TWD“ sind hier nicht nur die Zombies ein Feind der Menschen, sondern diese sich selbst. Walden setzt auch das für Kirkman typische disruptive Erzählen fort: Sympathische, wichtige Figuren können abrupt ihr Leben verlieren. Von der Ursprungsserie hebt sie sich aber nicht nur durch ihre jugendlichen und mit einer Ausnahme weiblichen Protagonisten ab. Die obligatorischen Metzelszenen behandelt sie knapp; es gibt keine Splatterfeste. Neben dem Denken und Fühlen der Figuren interessiert sie auch das Alltägliche in der Katastrophe: das Anfertigen einer guten Prothese, der schwierige Transport eines Stromgenerators, die Nöte einer Kurzsichtigen.
Ähnliches gilt für die schwarz-weißen Bilder. Sie sind erkennbar dem Vorbild des „TWD“-Zeichners Charlie Adlard verpflichtet, aber etwas reduzierter, lockerer. Diesem ersten Band sollen noch zwei weitere folgen. Bleibt Tillie Walden auf dem hier erreichten Niveau, wird „Clementine“ den „The Walking Dead“-Kosmos nicht einfach erweitern, sondern um eine spannende, einfühlsame und gar nicht plakativ erzählte Geschichte weiblichen Empowerments bereichern.
Dieser Text erschien zuerst am 23.05.2023 in der taz.
Tillie Walden: Clementine. Buch 1 • Aus dem Amerikanischen von Frank Neubauer • Cross Cult, Ludwigsburg 2023 • 240 Seiten • Hardcover • 26,00 Euro
Emilia Clarke und Marguerite Bennett (Text), Leila Leiz (Zeichnungen): M.O.M. – Mother of Madness • Aus dem Amerikanischen von Marion Herbert • Carlsen, Hamburg 2023 • 160 Seiten • Hardcover • 23,00 Euro
Christoph Haas lebt im äußersten Südosten Deutschlands und schreibt gerne über Comics, für die Süddeutsche Zeitung, die TAZ, den Tagesspiegel und die Passauer Neue Presse.