Am 16. September findet der zweite Manga Day statt. Nach dem Vorbild des zurzeit pausierenden Gratis-Comic-Tag werden 27 Manga angeboten. Im Presse-Interview spricht Altraverse-Leiter und Manga-Day-Koordinator Joachim Kaps über die Erfolgsgeschichte des Manga in Deutschland, über Cosplay, digitale Publikationsstrategien und die fast 800.000 Taschenbücher, die beim Manga Day 2023 gratis verteilt werden.
Lieber Jo, vielen Dank, dass du dir für unser Gespräch anlässlich des 2. Manga Day die Zeit nimmst. Hättest du Lust, uns eingangs ein wenig über deinen eigenen Verlagswerdegang zu erzählen? Wie lange und in welchen Verlagen und Positionen arbeitest du schon im Manga-Segment?
Ich bin inzwischen schon ein paar Jährchen in Sachen Manga in den deutschsprachigen Märkten unterwegs. Angefangen habe ich vor vielen Jahren mal bei Carlsen als Redakteur, wo ich der Redakteur von „Dragon Ball“ sein durfte. Dort war ich bis 2003 zunächst als Redakteur, später als Verlagsleiter Comic & Manga aktiv. Nachdem sich die Wege von Carlsen und mir getrennt hatten, bat mich die amerikanische Tokyopop-Gruppe ihre deutsche Niederlassung aufzubauen. Das hat mich von 2004 bis 2016 beschäftigt, am Ende war Tokyopop mit Carlsen im Umsatz gleichgezogen. Im Herbst 2017 habe ich dann Altraverse geründet. Wir sind zur Buchmesse 2018 mit fünf Büchern gestartet und mittlerweile zum drittgrößten Label im deutschsprachigen Markt herangewachsen.
Bevor wir uns ins Thema vertiefen, könntest du für diejenigen unserer Leser*innen, die das Thema Manga zum ersten Mal für sich entdecken, ein bisschen über die Geschichte und die Besonderheiten des Mediums erzählen? Was genau ist ein Manga, und was zeichnet diese Art von Comics aus?
Manga unterscheiden sich von den Comics aus den USA und Europa eigentlich vor allem durch ihre größere thematische Vielfalt, ihr dynamisches Erzählen, ihre sehr stark an Leserbedürfnissen ausgerichtete Themenentwicklung und ihre sehr schnelle Produktion, die man vielleicht am besten als industrialisierte Autorenschaft beschreiben könnte. Japan hat seit Jahrzenten so den mit Abstand größten Comicmarkt der Welt hervorgebracht. Seit rund 30 Jahren bemüht man sich um eine internationale Vermarktung und ist dank des Internets seit etwas mehr als 25 Jahren immer erfolgreicher damit. Manga dominieren heute weltweit praktisch alle Comicmärkte.
Was macht für dich die Faszination des Mediums aus? Und warum ist der Manga Deutschland so populär geworden?
Als Manga bei uns groß wurden, haben sie eine Lücke gefüllt, die von den amerikanischen und europäischen Comicverlagen vergessen worden war: junge Leser und Leserinnen. Während die US-Verlage seinerzeit immer speziellere Interessen alternder Superhelden-Fanboys bedienten, hatten die Europäer beschlossen, Comics zur Kunst zu machen. Beides waren natürlich für sich betrachtet nicht nur legitime, sondern auch nachvollziehbare Ziele. Nur hatte man dabei den Lesenachwuchs vergessen. Und auf genau den hatten sich die japanischen Verlage immer mehr spezialisiert, ihre Inhalte und ihre Erzählweisen den sich zu höherem Tempo und stärkerer Ausdifferenzierung wandelnden anderen visuellen Medien angepasst. Man vergisst es heute, aber damals haben MTV, Computergames und das Web unsere gesamte Bildrezeption verändert. Und Manga waren das Comic-Pendant zu dieser Entwicklung. Sie waren wilder als die anderen Comics, so wie früher mal die Beatles und Rolling Stones für die Musik.
Du sagtest bereits, dass du bei Carlsen und später bei Tokyopop schon früh die Etablierung des Manga in Deutschland miterlebt und auch mitgestaltet hast. Kannst du uns ein bisschen über die Anfänge erzählen? Wann kam der Manga nach Deutschland, und wann wurde den Verlagen bewusst, dass man es hier nicht mit den üblichen Lizenzprodukten zu tun hat?
Das Lernen und Verstehen hat auch bei den Verlagen anfangs eine Weile gedauert. Als ich bei Carlsen startete, tobte dort hinter den Kulissen ein erbitterter Kampf zwischen Andreas C. Knigge und dem halben Haus Carlsen um den richtigen Weg für Manga. Nach ersten Versuchen mit Manga in teuren Formaten, die mal mehr, mal weniger erfolgreich waren, glaubte Andreas fest daran, dass man Format und Preise zum preiswerten Taschenbuch lenken musste, um wirklich erfolgreich zu sein. Vor allem der Vertrieb von Carlsen sah das damals völlig anders und hatte eigentlich eh den Glauben an Comics verloren. Andreas hat am Ende recht behalten: Comics wieder für eine Leserschaft erschwinglich zu machen, die vom eigenen Taschengeld kaufen musste, war ein Schlüsselmoment für die Popularisierung von Manga in den europäischen Märkten. Alles musste anders sein: Format, Preis, Vermarktung und sogar die Leserichtung: Kulturelle Umbrüche dürfen nicht leise sein.
Wir sprachen ja schon über die immense Popularität des Manga hierzulande. Kannst du das ein bisschen mit Zahlen unterfuttern? Welche Marktanteile hat der Manga derzeit, und wie hat sich dieser Markt in den letzten Jahren entwickelt? Wie ist der Handel in Sachen Manga mitgewachsen, und wie steht es um die Akzeptanz des Manga im klassischen Buchhandel? Wird das Gros im stationären oder Online-Handel abgesetzt?
Gerade während der Pandemie sind Manga noch einmal unglaublich gewachsen. Kaum einer weiß das, aber Bildergeschichten bestreiten inzwischen rund 10 % des Umsatzes in der Belletristik, die immer als der populäre Teil des deutschen Buchmarktes galt.
Laut Media Control sind im Buchhandel und über die Online-Kanäle 2022 rund 12 Mio. Manga verkauft worden. Nicht eingerechnet sind da die Comicshops und Direktverkäufe, die Media Control nicht erfasst. Man kann daher wohl eher von 16 Mio. Exemplaren ausgehen. Nachdem es in den frühen Jahren starke Vorbehalte des Buchhandels gegen Manga gab, wohl vor allem weil sie den meisten fremd waren, ist heute eine breite Akzeptanz gegeben. Die großen Filialisten haben inzwischen gewaltige Manga-Abteilungen aufgebaut, Thalia betreibt sogar reine Manga-Shops. Aber auch der unabhängige Buchhandel hat die Zeichen der Zeit erkannt. Dank einer Kooperation von Altraverse und dem Barsortiment Libri, mit der Buchhändler*innen der Zugang zum Thema erleichtert werden soll, sind allein in diesem Jahr schon wieder 250 Buchhandlungen dazugewonnen worden.
Bei Comics spricht man ja in den letzten Jahren von einem Trend hin zu TV- und Kino-Adaptionen, aber das ist nichts im Vergleich zum Manga. Fast jede erfolgreiche Mangareihe ist als Animeserie adaptiert worden, in Deutschland laufen Anime bei Streamingdiensten wie Disney+, Netflix und eigenen Anime-Platformen wie Crunchyroll. Gleichzeitig gibt es viele Verleihe, die Anime als physische Medien in den Handel bringen. Wie wichtig sind Anime für den Erfolg der Manga in Deutschland, und wie ist die Zusammenarbeit mit den Anime-Streamern und Filmverleihen?
Die konsequente Cross-Media-Vermarktung ihrer Themen ist eine der vielen Stärken der japanischen Manga-Industrie, nicht nur über Anime, sondern auch durch konsequent vermarktete Merchandisewelten. Manga sind in den japanischen Städten nahezu überall, verlinken sich mit Popkultur, Mode, Games und vielen anderen Bereichen. Davon können wir bis heute eine Menge lernen. Und die Streamingportale haben inzwischen gewaltigen Einfluss auf den Buchmarkt. Ein gut gemachter Anime kann eine Manga-Serie zum Hit machen, auch wenn sie vorher nur mittelmäßig lief. Ein sehr bekanntes Besipiel ist die Serie „Demon Slayer“, die jahrelang kaum jemanden interessierte, bis der Anime sie zum internationalen Hit machte. Man darf gespannt sein, wie sich hier die „One Piece“-Realserie auswirken wird. „One Piece“ ist ja jetzt schon ein Megaseller, mit der teuren Netflix-Produktion im Rücken könnte sie endgültig in allen Haushalten bekannt werden und irgendwann „Asterix“ vom Thron stoßen.
Ein anderer Aspekt der Branche ist das Phänomen Cosplay. Wer die Leipziger Buchmesse besucht, kennt sie, die bunt verkleideten Cosplayer*innen, die oft selbst in Handarbeit ihre Kostüme herstellen und sich auf Messen und Cons treffen und austauschen. Kannst du uns ein bisschen über diese Szene erzählen? Und wie wichtig ist die Cosplay-Welt für die Manga-Verlage?
Für die Verlage ist Cosplay vor allem etwas, das wir mit Freude beobachten, weil sich in den wunderbaren Kostümen und auch in den einstudierten Szenen bei Cosplay auf der Bühne die Begeisterung der Fans für Manga und Anime ausdrückt. So werden die Helden der Manga-Welten für eine Convention lebendig, was einen sehr großen visuellen Reiz für alle anderen Besucher der Messen und Conventions bietet. Wir versuchen diese Community aber nicht zu beeinflussen, das ist eine ganz eigenständige Form des Fan-Seins, die am besten gedeiht, wenn wir als Verlage nicht versuchen, das zu instrumentalisieren.
Manga ist nicht nur in Deutschland ein Riesenmarkt, sondern auf fast allen europäischen Märkten und natürlich auch in den USA. Schaust du als deutscher Verleger nach Frankreich & Co., was dort mit dem Manga passiert? Gibt es Entwicklungen, die anders verlaufen sind als bei uns in Deutschland?
Die Leser*innen in Frankreich, Italien, Spanien und den USA haben ihre ganz eigenen Lesebiografien, daher lässt sich nicht immer aus den Erfolgen in lokalen Märkten etwas für den deutschen Markt ableiten. Durch die tiefe Verwurzelung der Bandes Dessinées in der französischen Kultur lassen sich z. B. Manga für ältere Leser*innen dort noch immer viel besser vermarkten als bei uns. Aber wir holen nach und nach auf. Lernen können wir von den ausländischen Markten meiner Meinung nach vor allem viel in Sachen Vermarktung. Marketing und Vertrieb werden im deutschen Comicmarkt oftmals noch immer so zaghaft bespielt wie vor 30 Jahren. Das muss sich ändern – und der Manga Day ist ein Versuch, es etwas lauter anzugehen.
Es ist nicht alles Manga, was asiatisch anmutet, Stichwort: Webtoons und Manhwa. Worin unterscheiden sich Comics aus Korea und China von ihren japanischen Vettern? Und wie viel Potenzial steckt in diesem Markt? Kann man da eine ähnliche Welle wie bei den Manga erwarten?
Das ist ein sehr spannendes Themenfeld. Die klassichen Manhwa waren ein Versuch der koreanischen Verlage, eine Art lokale Ausgabe der japanischen Manga zu etablieren, was in Korea funktionierte, aber im Hinblick auf die internationale Vermarktung mehr oder minder ein Flop war. Dann hat man sehr genau analysiert, wie man etwas schaffen könnte, was nicht nur eine Kopie der Manga war, sondern etwas Neues bot. Und da hat man Farbe und Digitalisierung als Möglichkeiten erkannt. Das hat – nicht zuletzt auch dank massiver Förderprogramme aus der Politik – nach und nach Erfolg gezeitigt. Und dank der Lese-Apps, die fast alle Stoffe zumindest auch in englischer Sprache anbieten, über Schulhöfe und Unis immer mehr Verbreitung gefunden. Und während Corona hat die Langeweile der Jugendlichen diesen Markt geradezu explodieren lassen. In Korea, aber auch in den USA und Europa. Mit „Solo Leveling“ gibt es einen ersten Megahit, der so etwas wie das „Dragon Ball“ des Manhwa-Marktes geworden ist. Wir haben von Band 1 schon jetzt rund 100.000 Exemplare verkauft – und ein zusätzlicher Boost durch eine Anime-Serie steht hier noch aus. Ich bin sicher, dass Webtoons einen ähnlichen Siegeszug wie Manga erleben werden.
In dem Zusammenhang – wie groß ist der E-Comic-Anteil am deutschen Mangamarkt? Wird in dieses Segment investiert? Ist den klassischen Manga-Leser*innen wichtig, ihre Manga auf Papier zu lesen?
Digitale Manga machen derzeit nur etwa rund 5 % des Marktes aus. Der Wert ist vor allem deshalb so gering, weil es aktuell nur e-books gibt. International geht der Trend wie beim Konsum von Filmen und Serien immer stärker zu Plattformen. Aktuell gibt es allerdings kaum solche Angebote in deutscher Sprache. Wir wissen aber, dass die Jugendlichen die internationalen Leseplattformen sehr intensiv nutzen. Ähnliche Entwicklungen sieht man ja bei Young Adult und New Adult in der Belletristik, wo Hits immer häufiger nicht über den Buchhandel, sondern über BookTok entstehen.
Was hat es mit dem Manga Day auf sich, und wie es zu dieser Aktion gekommen? Was ist das Ziel der Aktion?
Wie oben beschrieben, bin ich schon länger der Meinung, dass Manga bei uns stärker vermarktet werden müssen. Vor vier oder fünf Jahren haben sich die Manga-Verlage daher einmal getroffen, um zu schauen, ob es hier nicht auch Dinge geben könnte, die man gemeinsam tun kann. So entstand unter anderem auch die Idee des Manga Day. Es gab ja schon den Gratis-Comic-Tag als Vorbild, dessen Hefte mit 32 oder 48 Seiten aber für Manga nicht richtig gepasst haben, weil Manga Raum brauchen, um zu erzählen. Wir haben dann Aufgaben verteilt und uns in die Planung begeben. Es gibt eine Unit, die sich um den Vetrieb kümmert, andere machen sich Gedanken zu Marketing, Organisation und Logistik. Über die Titel, die man einspielt, entscheidet dann jeder Verlag für sich. Autor*innen, Verlagsmitarbeiter*innen, aber auch unsere Partner in Druck und Logistik haben sich bereiterklärt, alles quasi zum Selbstkostenpreis umzusetzen. Die teilnehmenden Verlage zahlen pro Titel eine Gebühr für Marketing, Versand etc., die teilnehmenden Händler kaufen ihre Pakete zum Selbstkostenpreis ein. Niemand gewinnt da etwas, außer den Leser*innen, denen wir mit dieser Aktion zeigen können, wie vielfältig das Angebot ist, und was es noch alles zu entdecken gibt.
2022 hat der Manga Day zum ersten Mal stattgefunden. Willst du an dieser Stelle mal ein Resümee ziehen?
Wir waren offen gestanden schon im ersten Jahr davon begeistert, wie gut die Idee angenommen wurde. An über 700 Orten wurden im ersten Jahr knapp 400.000 Taschenbücher verschenkt. An vielen teilnehmenden Stellen waren die Manga schon gegen Mittag kompett abgeräumt. Und sehr viele Buchhandlungen haben sich mit einem zusätzlichen Programm sehr engagiert, es gab Signieraktionen, Zeichen- und Cosplaywettbewerbe und viele andere Formen, um der Freude an Manga Ausdruck zu verleihen. Und für die Leser*innen entstand ein Event, bei dem endlich einmal ihre Lieblingsbücher im deutschen Buchmarkt im Mittelpunkt standen. Und das haben sie mit Freunden und der Familie geteilt.
Und wie sieht es 2023 aus? Wie viele Buchhandlungen haben sich dieses Jahr angemeldet? Wie groß ist das Interesse an der Aktion? Und welche Rolle spielen Bibliotheken beim Manga Day?
Wir waren ja schon 2022 völlig überwältigt von dem Zuspruch, aber 2023 übertrumpft abermals all unsere Erwartungen. Die Zahl der teilnehmenden Buchhandlungen, Comicshops und Bibliotheken ist auf deutlich über 1200 angewachsen, und wir werden in diesem Jahr fast 800.000 Taschenbücher verschenken. Die Manga-Party 2023 wird also noch einmal deutlich größer ausfallen.
Was sind deine Favoriten beim diesjährigen Manga Day?
Ich bin Verleger geworden, weil ich Bücher für andere und nicht für mich selbst machen möchte. Jeder hat seine eigene Biografie und seine eigenen Interessen, und basierend auf diesen Interessen sollte sich jede und jeder das aus dem Angebot herausfischen, das zu ihr oder ihm passt. Da braucht es keine Verlagsleute, die individuelle Tipps geben. Das ist ja gerade das Tolle am Manga Day, dass er die Vielfalt dessen aufzeigt, was Manga alles ist. Infos zu dem Titel gibt es auf mangaday.de, da kann man schauen, was einen individuell anspricht. Es lebe die Vielfalt!