Politik des Postfaktischen

Ein Sachcomic aus der Reihe „Die Comic-Bibliothek des Wissens“ über die Grundregeln der politischen Kommunikation – man sollte sie lieber beachten.

Rücktritte von Politiker*innen haben oft vielfältige Ursachen, häufig geht ihnen eine länger andauernde kritische Diskussion ihrer Amtsführung voraus. Nicht selten bilden dann völlig missglückte öffentliche Auftritte den eigentlichen Anlass zur Demission der betroffenen Person. Das war so bei der ehemaligen Familienministerin Anne Spiegel, die die Kritik an ihrer Rolle bei der Flutkatastrophe im Ahrtal 2021 – damals noch als rheinland-pfälzische Umweltministerin – mit einem Einblick in ihr aus verschiedenen Gründen aus den Fugen geratenes Privatleben kontern wollte und dabei so unsouverän wirkte, dass viele mindestens an ihrer Amtsfähigkeit, einige sogar an ihrer Zurechnungsfähigkeit zweifelten. Das ist nun so bei Christine Lambrecht, deren Neujahrsgrüße – über ihren privaten Instagramkanal verbreitet – nicht nur wegen ihrer miserablen Aufnahmequalität, sondern aufgrund einer völlig deplatziert wirkenden Äußerung für Spott und Häme sorgten und ihr Abtreten stark beschleunigten.

Sowohl Spiegels als auch Lambrechts Auftritte versprühen aufgrund ihrer anscheinend wenig durchdachten Konzeption ein frappantes Höchstmaß an Authentizität, das man in der deutschen (Medien-)Öffentlichkeit offensichtlich kaum zu ertragen bereit war. Ähnliches zeigte sich auch am Beispiel Armin Laschets, dessen Scheitern als Kanzlerkandidat der CDU kaum bis gar nicht von der Frage beeinflusst war, ob er einst als Lehrbeauftragter der Technischen Hochschule in Aachen Seminarnoten für Student*innen einfach erfunden hat. Weniger verziehen wurde ihm dagegen ein spontaner Lacher im Gespräch mit Umstehenden, während Bundespräsident Steinmeier den Betroffenen der oben besagten Flutkatastrophe sein Mitgefühl aussprach.

Das, was den drei Politiker*innen hier jeweils so gründlich misslungen ist, wird wahrscheinlich noch lange Jahre als Anschauungsmaterial dienen für Lehrende und Lernende eines Teilbereichs der Politikwissenschaft, den man Politische Kommunikation nennt. Dieser bezeichnet die Dreiecksbeziehung zwischen Politik(er*innen), Medien und Öffentlichkeit. Von deren Grundregeln handelt der im vergangenen Jahr erschienene Sachcomic „Politische Kommunikation. Die Kunst des Verführens und Überzeugens“ aus der bei Jacoby & Stuart verlegten Reihe „Die Comic-Bibliothek des Wissens“. Die Expertise steuerte hierfür der französische Medienhistoriker und ehemalige Direktor des Zentrums für Kulturgeschichte der Gegenwartsgesellschaften (Versailles) Christian Delporte bei, die Panels zeichnete der Cartoonist Terreur Graphic, der ansonsten im (beinahe) wöchentlichen Rhythmus gesellschaftskritische Comicstrips für die linksliberale Tageszeitung „Liberation“ gestaltet.

Bild aus „Politische Kommunikation“ (Jacoby & Stuart)

Delporte liefert in dem knapp siebzigseitigen Bändchen nicht nur einen Abriss über die Geschichte der politischen Überredungskunst: einst erfunden in den Public-Relations-Agenturen an der Westküste der USA zu Anfang der dreißiger Jahre, in den letzten beiden Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts weiterentwickelt zum allumfassenden Spin Doctoring, das den gesamten Informationsfluss von und über Politiker*innen kontrolliert und orchestriert. Er vermittelt darüber hinaus einen interessanten Einblick in die wichtigsten Techniken, Tricks und Kniffe im Spiel um Meinungsführerschaft und Deutungshoheit.

Dass die politische Debatte bestimmt wird durch die Überzeugungskraft der in Reden und Diskussionen vorgetragenen bzw. ausgetauschten Argumente, ist heutzutage mehr denn je ein unerreichtes Ideal. Mehr als Fakten und fachliche Kompetenzen haben sogenannte Soft Skills – also persönliche Charakterzüge und Verhaltensweisen – einen entscheidenden Anteil am Erfolg bzw. Misserfolg der tagtäglich der medialen Öffentlichkeit ausgesetzten (Profi-)Politiker*innen. Die Frage des Begehrens spielt dabei eine zentrale Rolle: Politiker*innen müssen einerseits Attraktivität verkörpern (also schlicht „schön“ sein oder aber führungsstark, tatkräftig, sympathisch etc.), andererseits müssen sie wenigstens den Eindruck vermitteln, dass sie sich für ihre potentiellen Wähler*innen und deren Wohl und Wehe brennend interessieren.

Damit in einem engem Zusammenhang stehend ist das Changieren zwischen Nähe und Distanz, Anwesenheit und Abwesenheit in der Öffentlichkeit. Auf diesem schmalen Grat gekonnt zu balancieren, heißt seit einiger Zeit auch die politische Debatte zu bestimmen. Hier sind die „Spin Doctors“ mit ihren eingängigen Narrativen und Slogans, ihrem Wissen über die Verführungsmöglichkeiten und Fallstricke der Sprache sowie ihrem Sinn für das richtige Timing gefragt. Terreur Graphics cartoonhafter Zeichenstil führt parallel zu den Ausführungen Deportes immer wieder augenzwinkernd-karikierend die mal mehr, mal weniger erfolgreichen Versuche förmlich vor Augen, Politiker*innen auf ein Image zu verschaffen, das diesen dauerhaft den Zuspruch der Wählerschaft sichert.

Dass Donald Trumps Erscheinen auf der politischen Bühne hier nur sehr knapp behandelt und Emanuel Macron gar nicht erwähnt wird, hat damit zu tun, dass der Comic in seiner französischsprachigen Originalausgabe bereits im Jahr 2016 erschienen ist. Das ist fast ein wenig tragisch, endet doch der Band mit einer eigentlich beruhigend gemeinten Aussage: Angesichts einer Kultur des (äußeren) Scheins im Fernseh- und nun im Social-Media-Zeitalter sowie einer gleichzeitigen Geringschätzung politischer Ideen solle man den Einfluss der Politikberater*innen und Kommunikationsexpert*innen auf die öffentliche Meinung bitte nicht zu sehr überhöhen. Auch sie wüssten letztlich nicht, was das „Volk“ wirklich wolle. Sowohl Trumps als auch Macrons politische Werdegänge bedeuteten jedoch einen bis dahin unerreichten (und von reichtlich PR unterstützten) Höhepunkt einer Politik jenseits der Fakten. Die Frage ist, ob man das „Spiel, auf das sich Politiker, Medien und Öffentlichkeit geeinigt haben“ (so der Klappentext), mittlerweile überreizt hat und sowohl Politiker*innen als auch die öffentliche Meinung sich wieder auf das Wesentliche des politischen Geschäfts zu konzentrieren bereit sind. Die Beispiele der geschassten Ministerinnen Spiegel und Lambrecht lassen jedoch nichts dergleichen vermuten.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 17.01.2023 auf: Taz-[ˈkɒmik_blɔg]

Mario Zehe (*1978) ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Lehrer für Geschichte, Politik & Wirtschaft an einer Freinet-Schule bei Quedlinburg (Harz). Seit vielen Jahren liest er Comics aller Art, redet und schreibt gern darüber, u. a. im [ˈkɒmik_blɔg] der Taz und für den Freitag.

Christian Delporte (Autor), Terreur Graphic (Zeichner): „Politische Kommunikation“. Jacoby & Stuart, München 2022. 72 Seiten. 14 Euro