Täterblicke – „Bezimena“

Fast 60 Prozent aller Frauen in Deutschland haben schon einmal sexualisierte Gewalt erlebt, so eine repräsentative Umfrage des Bundesfamilienministeriums. Zur sexuellen Gewalt zählen Vergewaltigungen genauso wie ungewollte Berührungen oder bedrängende Blicke. Die kanadische Comic-Künstlerin Nina Bunjevac hat sich in ihrer aktuellen Arbeit mit sexueller Gewalt auseinandergesetzt: Sie hat einen Comic aus der Sicht eines männlichen Täters geschrieben – und mit dem antiken Artemis-Mythos vermischt.

Für mich fühlte es sich zunächst einmal wie eine Zumutung an, diesen Comic zu lesen. Darin finden sich explizite sexuelle Gewaltdarstellungen: wie der Täter durch ein Fenster eindringt, eine halb entblößte Frau an den Haaren packt und schließlich in sie eindringt. Solche Szenen gibt es mehrfach in dem Buch – und das Schlimmste daran ist nicht der Inhalt dieser Szenen, sondern wie das von Nina Bunjevac präsentiert wird. Das könnten Bilder aus einem Porno sein: Die sexuelle Gewalt wird sehr deutlich gezeigt, mit all den aufgeworfenen und erigierten Geschlechtern. Und vor allem schauen die Protagonisten – Täter wie Opfer die Leser*innen immer wieder ganz direkt an – so als würden sie dazu einladen mitzumachen. Beim Lesen wird man also selbst zur Voyeuristin.

Nina Bunjevac (Autorin und Zeichnerin): „Bezimena“.
Avant-Verlag, Berlin 2020. 224 Seiten. 30 Euro

Zugleich verweist Nina Bunjevac mit damit auf ein uraltes Klischee, das immer wieder bedient wird: dass die Frauen selber schuld daran seien, wenn sie sexueller Gewalt ausgesetzt sind, weil sie mit ihren Blicken oder ihrer Kleidung dazu eingeladen würden. In dem Comic wird dieses Klischee sogar eine Zeitlang bedient – übrigens auch ein Grund, warum sich das wie eine Zumutung liest. Im Laufe des Comics wird dieses Klischee klar als Hirngespinnst des Täters entlarvt. Vieles andere dagegen ist nicht so leicht zu entschlüsseln, weshalb das wiederholte Lesen dieses Comics ungeheuer spannend ist.

Täterbiografie

Bezimena kommt aus dem slawischen und bedeutet namenlos. Damit steht diese Geschichte für alle Frauen, die sexuelle Gewalt erleben mussten. Zugleich ist es eine Täterbiografie. Benedict heißt der Täter und wir lesen, dass er das späte Wunschkind seiner Eltern war. Dass er schon als Kind gerne masturbierte, was damals mit dem Rohrstock geahndet wurde. Dass er sich mehr und mehr in sich selbst zurückzieht, einen Job im Zoo annimmt und dort im Schatten der Bäume masturbiert und schließlich immer übergriffiger wird. Hier wird die Geschichte eines Mannes erzählt, der nicht lernen durfte, seine Bedürfnisse anzunehmen, sich darüber auszutauschen und damit viel Leid in die Welt bringt. Wenn Benedict Sex hat, dann hat das nichts Kommunikatives, sondern ist ein Akt, über den er ganz allein bestimmt.

Moderne Adaption des Mythos von Artemis und Siproites

All das erzählt Nina Bunjevac vor allem in ganzseitigen, präzisen Tuschezeichnungen, die mit ihren feinen Schraffuren an Radierungen erinnern. Die Bilder vermitteln Sicherheit, weil sie an eine lange Tradition anknüpfen. Oder verweist dieses Zitieren von Radierungen darauf, dass sexuelle Gewalt gegen Frauen eine lange Tradition hat? Auch die Spiralen, die immer wieder in den Bildern auftauchen – mal ganz deutlich, mal versteckt in der Zeichnung eines Bauchnabels – deuten darauf hin, dass Nina Bunjevac sexuelle Gewalt gegen Frauen als etwas ewig Wiederkehrendes inszeniert.

Auf der Titelseite von „Bezimena“ verweist Nina Bunjevac darauf, dass dieser Comic eine moderne Adaption des Mythos von Artemis und Siproites sei. Das ist die berühmte Geschichte, in der Artemis, die Göttin der Jagd, am Flussufer sitzt und badet. Siproetes beobachtet sie dabei und wird als Strafe dafür von Artemis in eine Frau verwandelt – damit er am eigenen Leib erfahren kann, wie viel Leid damit verbunden ist.

Nina Bunjevac macht es in der Rahmenhandlung zu dieser Geschichte genau umgekehrt. Sie verwandelt eine Priesterin, die immer wieder Opfer von Männern wird in einen Mann – und lässt diesen durchleben, was es bedeutet, ein Täter zu sein. Auf den ersten Blick ist das so irritierend wie der ganze Comic. Doch auch mit der Rahmenhandlung legt Nina Bunjevac Strukturen frei: um aus einer Rolle herauszutreten, ist es gut, die Muster zu verstehen, die dahinter liegen – die eigenen und die der anderen.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 03.05.2020 auf: kulturradio rbb

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Bezimena“.

Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.

Seite aus „Bezimena“ (Avant Verlag)