Vorstadtfamilie mit Hund: Jean Robas frankobelgischer Funny-Klassiker „Boule & Bill“ erscheint in einer chronologischen Gesamtausgabe.
„Schnieff und Schnuff“ werden die meisten Älteren unter uns kennen, die mit Kauka-Comics aufgewachsen sind. Der rothaarige Bub mit seiner blauen Latzhose und sein Cockerspaniel, einer der charmantesten Hunde der Comic-Geschichte, die gemeinsam in etlichen One-Pagern ab 1964 in „Fix & Foxi“ und Co. für Gags sorgten. Wer sich seine Comic-Begeisterung aus seligen Kauka-Zeiten bis heute bewahrt hat, weiß längst, dass „Schnieff und Schnuff“ (eine typisch gruselige Kauka-Eindeutschung – viel später gab es mit „Pico & Bello“ einen weiteren Versuch bei Ehapa) eigentlich Boule und Bill heißen: Boule, der Junge, und Bill, der Hund. Erdacht wurden die beiden von dem Belgier Jean Roba im Jahr 1959 für das „Spirou“-Magazin des Verlagshauses Dupuis. Die Reihe, seine erste ernstzunehmende Comic-Arbeit, sollte auch sein Hauptwerk werden, das er bis 2001 fortführte.
Wie viele frankobelgische Comic-Klassiker durchlief die Serie in Deutschland diverse Verlage. Nach Kauka landete die Lizenz in den Achtzigern und Neunzigern bei Ehapa, ab 2003 veröffentlichte dann Salleck 17 Alben. Aktuell erscheinen bei Finix neue Geschichten (gestaltet von den Nachfolger Robas), und Carlsen bringt nun die lang erhoffte chronologische Gesamtausgabe aller Roba-Episoden, deren erster Band die Jahre 1959 bis 1963 beinhaltet. In dem ausführlichen Sekundärteil erfahren wir, wie Jean Roba zum Comiczeichner wurde, ein zäher und steiniger Weg für ihn als bestens ausgebildeter und talentierter Quereinsteiger aus der Werbebranche, den er aber beharrlich verfolgte. Und welchen immensen Einfluss Franquin dabei auf ihn hatte. Wie bei anständigen Gesamtausgaben üblich, ist auch hier das Bonusmaterial garniert mit etlichen Abbildungen: Skizzen, Fotos, Arbeiten für die Werbung und erste Comic-Versuche.
Boule & Bill starteten gleich in mehrerer Hinsicht kurios, beginnend beim Datum ihres Debüts, das war nämlich der 24. Dezember 1959. Dann nicht als One-Pager-Gag, wie später gewohnt, sondern als 40-seitige albumlange Geschichte, die zudem nicht von Roba stammt, sondern von Maurice Rosy, der u. a. auch für Will „Harry und Platte“ Storys schrieb. Und: Die Geschichte („Boule gegen die Mini-Haifische“) erschien als sogenanntes Mini-Récit, als Minicomic. Das mussten die Leser:innen erst als Bogen aus dem Magazin lösen, dann falten und schneiden, bis ein kleines Heftchen entstand. Die Episode sollte einzigartig bleiben, denn Roba übernahm gleich danach auch das Autoren-Ruder und begann mit seinen kurzen Einseitern, die wir bis heute von der Reihe gewohnt sind – insgesamt gestaltete er 1149 Gags, wobei sein von Franquin geprägter Zeichenstil, der perfekt zu Dupuis‘ École Marcinelle passte, bereits von Beginn an sehr ausgereift war (nur Boule hat noch schwarze Knopfaugen).
Im Gegensatz zur anderen Reihe, die im „Spirou“-Magazin aus One-Pagern bestand, nämlich Franquins „Gaston“, mit all ihren verrückten Erfindungen und den damit einhergehenden kleinen Katastrophen, passieren Robas Gags meist in einer Vorstadtwelt, in einer Familie mit Hund, die in einem kleinen Häuschen mit Garten im bescheidenen, aber gefestigten Wohlstand lebt. Bill kommentiert das Geschehen für uns (nicht für seine Co-Akteure) in Denkblasen, was viel zum Humor beiträgt, beispielsweise wenn er gebadet werden soll und das mit allen Mitteln zu verhindern sucht (ein Motiv, das auch in die wenig erfolgreichen Real-Verfilmungen übernommen wurde). Damit entsteht von Beginn an eine liebevoll gestaltete Gag-Serie, ein klassischer frankobelgischer Dauerbrenner. Bei Dupuis erschienen bis jetzt drei Bände der Gesamtausgabe, auf Deutsch ist Band 2 für den Oktober geplant.
Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de
Jean Roba (Zeichnungen, Szenario), Maurice Rosy (Szenario): Boule & Bill Gesamtausgabe Band 1 • Aus dem Französischen von Horst Berner und Eckart Schott • Carlsen, Hamburg 2024 • 264 Seiten • Hardcover • 38,00 Euro
Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.