Krimi und Milieustudie

Der Berliner Comickünstler Mikael Ross ist bekannt für gut recherchierte Biografien und Milieustudien: die Beethoven-Erzählung „Goldjunge“, die Graphic Novel „Der Umfall“ über Noel, einen Jungen mit Down-Syndrom. Nun legt Ross mit „Der verkehrte Himmel“ einen Krimi vor, den er im Jugendmilieu Berlin-Lichtenbergs ansiedelt.

Es geht um einen abgetrennten Finger – um eine vietnamesische Frau, die Opfer von Menschenhändlern geworden ist und fliehen will. Und es geht um drei Teenager aus Berlin-Lichtenberg, die in diese Verbrechen hineingezogen werden. Da sind die beiden Geschwister Dennis und Tâm, deren Eltern vietnamesische Einwanderer sind. Die sind auf einen Polen-Markt gefahren, um ein scharfes Messer für den Imbiss der Eltern zu kaufen und selbst ein paar Schnäppchen zu machen. Tâm rasselt mit ihren neu erworbenen Inlinern in ein Auto, in dem Hoa Binh eingeschlossen ist. Dass die junge Frau von Menschenhändlern gefangen gehalten wird, ahnen die Geschwister nicht. Stattdessen reichen sie einen Zettel mit ihrer Adresse durchs Dachfenster, damit Hoa Binh sich wegen des Schadens am Auto bei den Eltern melden kann.

Und dann ist da der Einzelgänger Alex, der Geheimagent spielt und einen Mann im SUV mit getönten Scheiben mit seiner Drohne verfolgt. Als der einen Rucksack und eine Tüte vom Schnellimbiss von einer Brücke wirft, verweben sich die Handlungsfäden. Denn in dem Rucksack findet Alex die Adresse von Tâm und in der Tüte den abgetrennten Finger. Was dann folgt, ist ein spannender Krimi mit rasanten Actionszenen.

Mikael Ross ist für seine gut recherchierten Milieustudien bekannt. „Der verkehrte Himmel“ ist ganz anders und trotzdem ein typischer Mikael Ross. Denn „Der verkehrte Himmel“ ist zwar reine Fiktion, die Elemente dieses Krimis aber sind Realität. Dass Berlin-Lichtenberg – zumindest bis zum Krieg Russlands gegen die Ukraine – ein Umschlagplatz für russische Menschenhändler war, zeigen die 39 Leichen von vietnamesischen Menschen, die in einem LKW im britischen Essex gefunden wurden. Die Ermittlungen ergaben, dass sie Opfer von Menschenhändlern waren, und die Handydaten zeigten, dass sie sich zuvor in Berlin-Lichtenberg befanden.

Diese Nachricht nahm Mikael Ross zum Anlass für seinen neuen Comic. Und er hat das mit den eigenen Erfahrungen verbunden, die er als Projektleiter an Lichtenberger Schulen gesammelt hat. Er zeichnet den unglaublich rauen Ton zwischen den Schüler*innen auf, die einander dann doch immer wieder helfen – zum Beispiel als eine Horde Rollschuh-Mädchen Tâm das Inlineskaten beibringt. Ross zeigt, wie einsam und auf sich gestellt Alex ist, dessen alleinerziehende Mutter ständig arbeiten muss. Und wie die Geschwister Tâm und Dennies bei sehr strengen, aber auch liebevollen Eltern aufwachsen. Und dann gibt es immer wieder unglaublich witzige Szenen, zum Beispiel wenn sich die raue Kickboxerin Marina in Dennis verliebt und der nicht weiß, wie er sie abblitzen lassen soll, weil er Angst hat, eins auf die Nase zu bekommen. Auf diese Weise wird der Krimi dann doch wieder zu einer fein beobachteten Milieustudie.

Ross hat sich vom Manga inspirieren lassen: Es ist sein erster Comic in Schwarzweiß, und er benutzt gerasterte Hintergründe für dunklere Flächen, das sieht aus, wie bei alten Zeitungsfotos. Ross zerlegt die rasanten Rollschuhszenen und vor allem die Verfolgungsjagden in viele einzelne Bilder, die an eine Filmdramaturgie erinnern. Hoah Binh springt zum Beispiel von einem Absatz hoch oben auf einem Lichtenberger Plattenbau auf einen Balkon, weil sie in der Wohnung von Tâm entdeckt wurde und fliehen muss – das ist unglaublich spannend inszeniert. Und dann schafft Mikael Ross immer wieder auch berührende Szenen, indem er die Emotionen seiner Protagonisten so exakt zeichnet. Aber auch, weil er ein einziges Mal die Gesichter und seine schwarzweißen Zeichnungen so fein mit einem zarten Rot versieht, dass es sich beim Lesen anfühlt, als würde man selbst rot werden.

„Der verkehrte Himmel“ ist auch der Titel eines berühmten vietnamesischen Gedichts, das Hoah Binh zitiert: „Wir sehen in schlammige Pfützen und erkennen den verkehrten Himmel.“ Das kann man so interpretieren, dass in all dem Leid auf Erden immer auch der Himmel und die Freiheit erkennbar sind. Zugleich ist es eine Anspielung auf Christa Wolfs Roman „Der geteilte Himmel“ – nur dass die Grenzen heute nicht innerhalb von Deutschland verlaufen, sondern zwischen den Ländern, die in Wohlstand und Freiheit leben, und denen, aus denen Menschen vor Krieg und Armut fliehen.

„Der verkehrte Himmel“ ist also ein ungeheuer vielschichtiger Comic, in dem alle Figuren mit großem Respekt gezeichnet werden – was typisch ist für Ross. Zugleich ist die Erzählung unglaublich lustig, spannend und rasant – der bislang beste Comic von Mikael Ross.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 01.07.2024 auf: radio3 rbb

Mikael Ross: Der verkehrte Himmel • Avant-Verlag, Berlin 2024 • 304 Seiten • Softcover • 28,00 Euro

Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.