Manchmal etwas seltsam

Das Beste seit „Black Hole“: Charles Burns‘ neuer Dreiteiler „Daidalos“ ist vollendet.

Ein imaginativ in schrägen Richtungen hochaktiver und zeichnerisch hochbegabter junger Mann denkt sich eine dem Organischen (Hirnmasse) und Mineralischen (Gestein aus einer anderen Welt) gleichermaßen nahe Kugelform unbestimmter Größe, die auf ihrer Unterseite mit Tentakeln bewehrt ist, durch die Lüfte schwebt und weißliche Würmer abwirft, die alsbald zu Kokons heranwachsen, denen wiederum zunächst wachsgleich zerschmolzene, dann perfekt modulierte menschliche Leiber entschlüpfen – voilà, da hat man sie schon, eine zwar nicht unbedingt Common-Sense-gemäße, aber doch stark und evident plausible Allegorie des artistischen Schöpfungsprozesses, oder? Und wenn sich das Ganze dann auch noch mythenschwer „Daidalos“ nennt, sind der als Erfinder, Baumeister, Holzskulpteur und Bildhauer aktive Vater des Ikaros sowie ein fiktiver Künstler namens Stephen Dedalus, den James Joyce seinerseits 1916 als jungen Mann porträtierte, assoziativ nicht weit entfernt – oder?

Schön bzw. vielmehr enttäuschend wär’s. Das, was man hier gerne auf Allegorie, Metapher und sinnstiftende Mythenreferenz rückrechnen würde, bleibt in der Schwebe bzw. lässt sich nicht ohne Rest auflösen und eins zu eins in den Verständnisgriff kriegen – es ist komplizierter, allerdings frei von jedweder Absicht und Mühe, kompliziert daherkommen zu wollen. Schließlich sind wir bei Charles Burns, jenem 1955 geborenen US-amerikanischen Comic-Auteur, dessen überschaubares Werk seit der zwischen 1995 und 2005 erschienenen, für den Body-Horror in der sequenziellen Bilderzählkunst Maßstäbe setzenden, schwarzweißen Teenage-Angst-Symphonie des Grauens „Black Hole“ einen der Höhenkämme dessen bildet, was an Eigenwilligem und kulturindustriell Unberechenbarem im Medium möglich ist. Das Besondere und besonders Aufregende an Burns‘ Arbeiten besteht grundsätzlich darin, so unmittelbar zugänglich wie konsequent rätselhaft zu sein – die Oberfläche suggeriert permanent Tiefgang, aber man kommt einfach nicht drunter. Vielleicht hat er seine Fähigkeit, scheinbar disparate, nicht naheliegenderweise einander komplementäre oder zugetane Dinge auf mehrerlei Ebenen mühelos zu einem Gobelin zu verweben, dessen Fremdartigkeit ebenso außer Frage steht wie seine Schönheit, nie eindrucksvoller, vielschichtiger, verspielter und entspannter demonstriert als mit seinem frischesten, in drei Bänden veröffentlichten Comic „Daidalos“.

Das Personal ist Burns-typisch spätadoleszent und bewegt sich an etwas entlang, das man getrost als Handlung bezeichnen kann – wobei Burns sich niemals von der allgemeinen Übereinkunft darüber, was eine konventionelle und dramaturgisch konzipierte Erzählung ausmacht, aus der Ruhe bringen lässt. Brian ist der junge visuelle Künstler mit alkoholkranker Mutter und verantwortet mit seinem Highschool-Freund Jimmy eine Reihe von Horror- und Science-Fiction-lastigen Amateur-8mm-Schlock-Filmen, die man an Partyabenden dem Freundeskreis präsentiert. Jimmy über Brian: „Er ist ein super Typ – sehr klug und talentiert, aber… Er ist manchmal etwas seltsam.“ Zu den engeren Freundinnen gehören Laurie und Tina. Laurie und Brian (die Erzählperspektive wechselt zwischen ihr und ihm) finden Gefallen aneinander, das allerdings gegenseitig – wenn überhaupt – nur mit einem diffusen körperlichen Begehren zu tun hat. Sinnliche Körperlichkeit wird eher in platonische Liebesdienste gestellt: Sie bewundert seine erratische Aura und Kunst, er ihre rothaarige Schönheit und Kunstobjekttauglichkeit, als Muse und zusätzliche Inspirationsquelle neben den Genrefilmen, die seine via Skizzenbuch pausenlos ausgelebte Kreativität maßgeblich befeuern. Man geht ins Kino, hängt in einer Strandhütte ab und unternimmt eine Wanderung zu einem Bergsee, alles stets getaktet durch Ideen und Aufnahmen zu einem neuen, von Brian initiierten Filmprojekt mit dem Titel „Final Cut“. Ein Paar werden nicht Brian und Laurie, sondern Laurie und Tina, und die endgültige Schnittversion des Rohmaterials, die letztendlich in kleinen Einzeleinstellungspanels präsentiert wird, läuft nicht auf einem Projektor, sondern in Brians Kopf ab.

Immer wieder ist zu lesen, Charles Burns bebildere die Wirren des Erwachsenwerdens, was absolut zutrifft, da er sich nicht anmaßt, diese Wirren zu psychologisieren oder überhaupt als solche auszuweisen. Er bebildert sie im Grunde nicht, sondern setzt sie schlicht, aber alles andere als gewöhnlich ins Bild, ohne sich groß um eine Unterscheidbarkeit von Fiktionalität und Faktizität, Ursache-Wirkung-Dramaturgie oder eine provisorische Trennbarkeit von Form und Inhalt zu kümmern. Ungefähre filmische Entsprechungen dessen bieten etwa Jean-Pierre Melvilles „Le Samouraï“ („Der eiskalte Engel“, 1967) und David Cronenbergs „Spider“ (2002), denen es gelingt, gleichzeitig die Innen- und Außenwelt ihrer psychisch devianten Hauptfiguren zu zeigen – herrscht im Kopf finstere Leere, sind die Straßen von Paris und London eben menschenleer. Auf diesem Weg wird außerdem der wenig originelle Topos „Kunst als Ersatz für Liebe“ mit neuer Evidenz aufgeladen. Gleich zu Beginn illustriert Burns sein virtuoses Spiel mit dem unklaren Verhältnis zwischen Abbildung und Bildobjekt durch ein Selbstporträt: Brian erblickt auf einem Toaster sein verzerrtes Spiegelbild, doch auf dem Hals der Figur, die als ihrerseits zeichnende auf seinem Blatt entsteht, sitzt die den Gesichtszügen ihres Schöpfers unendlich fremde und ihm dennoch so ähnliche, ominös-monströse Kugelform.

Auch seinen eigenen, unverkennbaren, markant getuschten Strich, die dunkle und trotzdem kräftige Palette seiner Kolorierung, seine eigene formale Strenge weiß Burns zu kontern, indem er feinschraffierte Bleistift- und Kohleskizzen oder schwarzweiße Breitwandausschnitte von Filmsequenzen einmontiert, die ihr eigenes Bild- und Abbildrecht behaupten dürfen. Die wichtigsten Referenzen, die Burns gänzlich uneitel einarbeitet, weil darüber plausibel den Bogen von jungen Menschen einleuchtendem Genre-Schund zu seiner eigenen Kunst schlagend, sind Don Siegels „Invasion of the Body Snatchers“ („Die Dämonischen“, 1956) und „The Last Man on Earth“ mit Vincent Price (1964). Zumindest die Ahnung eines womöglich höheren filmischen Selbstreflexionsniveau-Angebots lässt er seinen jungen Menschen dann doch noch zukommen, nämlich in Gestalt von Peter Bogdanovichs „The Last Picture Show“ („Die letzte Vorstellung“, 1971), worin es selbst Flirtgelegenheiten bietende Kinobesuche kaum je schaffen, die uneingeschränkte Herrschaft der Trostlosigkeit zu unterbrechen. Letzterem gegenüber entzieht sich „Daidalos“ (vom Reprodukt-Verlag in drei entrückt-bedrückend schönen Buchkörpern zur Welt gebracht) einer solchen atmosphärisch-tonalen Festlegung beziehungsweise löst diese allein stilistisch auf, mag es hier und da auch trostlos zugehen.

In Burns‘ von u. a. Hergés klarer Linie und EC-Horror-Comic-Zeichnern wie Jack Kamen und Al Feldstein inspirierter Grafik fallen mitunter höchste Form und Formlosigkeit zusammen. Seine Gesichter sind so klar identifizierbar wie abstrakt glatt; haarklein ausgeführte Texturen wirken gleichermaßen und unentscheidbar weich-schwammig wie hart-scharfkantig; trotz der augenfälligen Raumtiefe seiner Panoramen (Burns mag weite Landschaften und Stadtarchitektur genauso gern wie Nahaufnahmen und Wälder) kleben die sie durchschreitenden, durchfahrenden oder durchschwebenden Objekte seltsam flächig, skulptural und undynamisch in den Panels. Und auch vom Mythologischen geht es munter wieder zurück zum Profanen, trägt doch die amerikanische Gesamtausgabe von „Daidalos“ denselben Titel wie Brian Milners finaler Kopf-Film: „Final Cut“. Im Zweifel baut Burns eine seiner seltsamen Welten auch mittels eines einzigen Bildes.

Sein nächstes Werk trägt den Titel „Kommix“ und besteht aus 80 Titelbildern von Comics, die nie existierten; nicht zuletzt gibt es dort irgendwo ein Wiedersehen – oder die Verheißung eines Wiedersehens – mit den schwebenden Tentakel-Gehirnen, die zu interpretieren ja nun mal keine wirklich lohnenswerte Strategie darstellt, denn Interpretation ist bekanntlich laut Susan Sontag die Rache des Intellekts an der Welt. Mit den Worten von Charles Burns (bei einer Bühnenpräsentation des ersten „Daidalos“-Albums in Frankreich): „I’m not really explaining that properly… I’ll stop now.“

Diese Kritik erschien zuerst am 27.07.2024 auf: DieZukunft.de

Charles Burns: Daidalos. Band 1-3 • Aus dem amerikanischen Englisch von Heinrich Anders • Reprodukt, Berlin 2020-2024 • 64/64/96 Seiten • Hardcover • 20,00/20,00/24,00 Euro

Sven-Eric Wehmeyer ist Übersetzer, freier Redakteur, Autor und Comic-Experte. Für Random House hat er u. a. mehrere Romane Stephen Kings und Richard Laymons ins Deutsche übertragen.