Die Erzählungen vom Goldrausch in Amerika sind vor allem durch die Abenteuerromane von Jack London geprägt. Die spanische Comiczeichnerin Núria Tamarit nimmt diese Romane zum Vorbild, lässt in „Die Polarwölfin“ eine Frau den weiten Weg zum Gold durch Eis und Schnee antreten und macht daraus eine Parabel über die Zerstörung der Natur und das Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern.
Joana heißt die Frau, die Núria Tamarit auf Goldsuche schickt. Sie ist mit dem Schiff aus Europa gekommen, weil es für sie dort keine Perspektive mehr gibt. In Rückblenden erfahren wir, dass sie mit ihrer Familie ein zufriedenes Leben als Bauern geführt hat – bis marodierende Soldaten das Haus niedergebrannt und die Familie umgebracht haben. Das glückliche Leben in Europa ist in leuchtenden Farben gezeichnet und ein Kontrast zu dem, was sie als Goldgräberin erwartet. Einem Expeditionsleiter gibt Joanna ein wertvolles gegerbtes Fell, damit er sie in seine Expedition aufnimmt – und dann geht er ohne sie.
Als sie der Expedition folgt, wird sie zwar aufgenommen, muss aber mit der Gewalt der Männer leben. Hunde werden geprügelt und übel zugerichtet, den beiden Frauen, die mitreisen, wird ein Auge ausgeschlagen, und der Indigene Fährtenleser hat so viele Narben, dass klar ist, dass auch er immer wieder verprügelt wurde. Gegen diese Gewalt der Menschen wirkt die lebensfeindliche Natur und Schneelandschaft geradezu harmlos.
Jack London hat ein Bild der Goldgräber gezeichnet, die einander beim Überleben in der harten Natur helfen. Auch bei Núria Tamarit gibt es Menschen, die einander helfen, allerdings sind das nur weiße Männer untereinander. Gegenüber Frauen, Indigenen und Tieren sind die Männer gewalttätig. Auch die wenigen Frauen helfen einander, erst zögerlich, dann immer mehr.
Joana flieht als erste von der Expedition. Als die Männer einen Hund erschlagen wollen, rettet sie ihn und läuft weg. Später trifft sie die beiden anderen Frauen der Expedition, und die drei tun sich zusammen – um gemeinsam zu überleben und um so viel Gold zu finden, dass es für Joana Heimreise reicht. Auf den ersten Blick wirken die Darstellungen von Männern und Frauen ungerecht. Allerdings geht es Núria Tamarit nicht um Individuen, sondern um männliche und weibliche Muster, die hier radikal durchgespielt werden: Das männliche Muster, das erobern will und herrschen und dafür auch Zerstörung in Kauf nimmt. Und das weibliche, das im Einklang mit der Natur lebt und auf Ausgleich zwischen den Menschen und der Natur bedacht ist. Das ist konsequent erzählt, und es trifft einen Nerv der Zeit. Beim diesjährigen Comic-Salon in Erlangen war „Die Polarwölfin“ am Samstagmittag ausverkauft, obwohl der Salon noch bis Sonntagabend geöffnet war.
Die Polarwölfin stört immer wieder die Expedition und verkörpert das Prinzip der Natur. Im Comic wird sie von den Männern gejagt. Sie entkommt und setzt sich schließlich durch, indem sie die Frauen vor den Männern rettet. Genau diese Kombination, die Kritik am Patriarchat und das Eintreten für die bedrohte Natur, macht diesen Comic so erfolgreich. Der steht in der Tradition des Ökofeminismus, einer Bewegung aus den 1970ern, die gerade eine Renaissance erlebt.
Núria Tamarit denkt den Ökofeminismus weiter, indem sie zeigt, dass auch die Frauen in ihrer Geschichte die Werte der Männer verinnerlicht haben. Wie groß die Genugtuung ist, wenn sie den Männern voraus sind – wie es ihnen selbst also mehr um den Triumph als um den Ausgleich der Interessen geht – und wie sehr sie selbst dem Goldrausch verfallen und ihnen darüber alles andere egal wird.
Trotz aller Unmenschlichkeit blitzt immer wieder mal Hoffnung auf. Wenn Joanna allein ist und jagt, reißt der Himmel auf und die Enten fliegen vor ihr auf. Dann ist sie im Einklang mit der Natur und nimmt nur so viel, wie sie braucht. Auch die Erinnerungen an ihr altes Leben in Europa stimmen hoffnungsfroh. Denn es sind am Ende genau diese Erfahrungen, die sie reflektieren lassen, wie sehr sie selbst nach dem männlichen Prinzip handelt, das sie doch eigentlich verabscheut. Núria Tamarit hat mit „Die Polarwölfin“ einen radikalen, bildgewaltigen und vielschichtigen Comic über den Umgang mit der Natur und der Menschen untereinander gezeichnet.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 17.06.2024 auf: radio3 rbb
Núria Tamarit: Die Polarwölfin • Aus dem Spanischen von André Höchemer • Reprodukt, Berlin 2024 • 216 Seiten • Hardcover • 29,00 Euro
Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.