Als ein jüdischer Händler von einem Mitglied einer angesehenen Hamburger Bürgerfamilie ermordet wird, müssen die Mitglieder der jüdischen Gemeinde das Verbrechen hinnehmen, um niemanden gegen sich aufzubringen. Nur die junge Rebekka Lipmann kann sich nicht damit abfinden und beginnt mit ihrem Mann Schmuel Ermittlungen, die sie durch Hinterhofsynagogen, Handelsbörsen, Tavernen und Vergnügungsmeilen des frühen Hamburg führen.
Die Geschichte von Jens Cornils‘ Comicdebüt „Zeter und Mordio“ basiert auf einem historischen Kriminalfall von 1687, den Glückel von Hameln in ihren Memoiren schildert. Glückel von Hameln, geboren 1647 als Glikl bas Judah Leib, wurde früh mit dem nur wenige Jahre älteren Chajim verheiratet. 1691 starb Chajim und hinterließ Glikl das verschuldete Geschäft und 14 Kinder, von denen acht noch unverheiratet waren. „Um nicht endgültig dem Trübsal zu verfallen”, wie sie ihre Autobiografie einleitet, beginnt Glikl ihr Leben aufzuschreiben. Ihre Memoiren sind eine herausragende Quelle für die Erforschung deutsch-jüdischer Geschichte und Kultur. „Zeter und Mordio“ wurde als einer von neun Finalisten für den Comicpreis 2024 der Berthold Leibinger Stiftung ausgezeichnet und entstand in enger Zusammenarbeit mit dem Projekt „Geschichtomat“ des Institut für die Geschichten der deutschen Juden in Hamburg. Im folgenden Presse-Interview spricht Cornils über die Hintergründe des Projekts.
Lieber Jens, Glückwunsch zum neuen Buch. Hast du Lust uns ein bisschen was zur Entstehung des Comics zu erzählen? Wie bist du zum Beispiel auf das Thema gestoßen und wie war deine Herangehensweise im Zeichnen und Schreiben?
Die Idee für den Comic stammt nicht von mir, sondern vom Bildungsprojekt „Geschichtomat“ des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden hier in Hamburg. Ursprünglich war eine Comic-Adaption von Glückels Memoiren geplant. Als ich davon hörte, habe ich mich direkt bei Carmen Bisotti, der Leiterin des Projekts, gemeldet. Wir verstanden uns sofort gut und begannen gemeinsam an dem Konzept für das Buch zu arbeiten. Nachdem ich Glückels Memoiren gelesen hatte, wurde mir jedoch schnell klar, dass sich der Text nicht gut für eine Comicerzählung eignet. Glückel schreibt sehr frei von der Seele, springt zwischen verschiedenen Orten, Zeiten und Personen hin und her und fügt immer wieder religiöse Anekdoten oder Gleichnisse ein. Einen durchgehenden Spannungsbogen oder eine klare Erzählstruktur gibt es kaum. Deshalb suchte ich innerhalb des Buches nach kleineren Geschichten, die sich besser erzählen lassen und spannend sind. Dabei stieß ich auf den Kriminalfall und wusste sofort, dass dies der richtige Ansatz war. Carmen fand die Idee ebenfalls gut, und ich machte mich daran, ein Skript zu schreiben.
Glückel schildert den Kriminalfall nur in wenigen Absätzen. In meiner Version habe ich mich vor allem auf das konzentriert, was sie nicht erzählt, und eigene Narrative entwickelt, anstatt ihren Bericht einfach als Comic umzusetzen. Trotzdem tauchen die Motive, die ich verwendet habe, in Glückels Memoiren auf, wenn auch an anderen Stellen. Zu Beginn meiner Geschichte wird Schmuel beispielsweise bei einem Perlenhandel betrogen – ein Ereignis, das in Glückels Bericht über den Kriminalfall zwar nicht vorkommt, aber in ihren Memoiren woanders geschildert wird. Auch meine Figuren basieren auf Glückels Verwandten, über die sie erzählt. So diente ihr Vater als Vorbild für den Vorsteher. Beim Schreiben mache ich immer schon viele Skizzen. Aus dem Skript und diesen ersten Zeichnungen entsteht dann das Storyboard und schließlich der fertige Comic.
Die Geschichte, die du erzählst, basiert auf einem Kriminalfall aus dem Jahre 1687. Abgesehen von den Aufzeichnungen und Memoiren der Glückel von Hameln, wie bist du bei der Recherche zu dem Comic vorgegangen?
Dank Carmen, die mich als Historikerin mit ihrem umfassenden Wissen, zahlreichen Literaturtipps und wertvollen Kontakten unterstützt hat, konnte ich mir zunächst einen fundierten Überblick über die Zeit und die jüdische Kultur des 17. Jahrhunderts verschaffen. Wann immer ich Fragen hatte, stand sie mir zur Seite. Geeignetes Referenz- und Bildmaterial zu finden, war bei diesem Projekt besonders schwierig. Vieles aus jener Zeit wurde durch Brände, Fluten und Kriege einfach zerstört, und es gab damals bei weitem nicht so viele Bilder wie heute. In den Altstädten von Lübeck und Stade fand ich Anhaltspunkte, die mir halfen, das historische Hamburg nachzubilden. Diese Städte dürften in ihrem Erscheinungsbild ähnlich gewesen sein. Besonders schwierig war es jedoch, Bildmaterial aus der jüdischen Gemeinde zu finden, da nahezu nichts davon erhalten geblieben ist. Zudem existierten viele der Dinge, die wir heute mit dem Judentum verbinden – wie die Kippa oder die typischen Schläfenlocken – damals noch nicht.
Im Endeffekt musste ich viel selbst rekonstruieren und interpretieren. Um schließlich das jüdische Hamburg des 17. Jahrhunderts visuell darzustellen, habe ich es als eine bunte, opulente Comicwelt gezeichnet. Diese bewusste Stilwahl soll verdeutlichen, dass es sich hier nicht um eine genaue Wiedergabe der historischen Realität handelt, sondern um eine Vorstellung, eine interpretierte Welt. Dieser Ansatz mag bei einem historischen Comic auf Kritik stoßen, doch andererseits kennt jeder dank „Asterix“ Julius Cäsar, ohne die Comicfigur für eine realistische Darstellung zu halten.
Eine weitere Herausforderung bei meinem Projekt war es, die Geschichte im Milieu der Händler und Geldverleiher anzusiedeln, ohne dabei in antisemitische Klischees zu verfallen. Der vermeintliche Hang der Juden zum Geld ist ein tief verwurzeltes Vorurteil, das in vielen Kulturen immer wieder reproduziert wurde. Es war mir daher besonders wichtig, diesen Stereotyp zu dekonstruieren und die historischen Hintergründe offenzulegen. Juden wurden systematisch in diese Berufe gedrängt, und zwar als ein Mittel der Unterdrückung und Kontrolle durch die herrschende Klasse. Das sollte ihre soziale Stellung begrenzen und sie gleichzeitig für wirtschaftliche Spannungen verantwortlich machen.
Die Aufarbeitung historischer Themen ist dein Steckenpferd. Was ist dein Interessante daran?
Für mich ist die Recherche ein zentraler Bestandteil des kreativen Prozesses. Ich liebe es, mit alten Texten und Bildern zu arbeiten und Informationen zu sammeln, um neue Erkenntnisse zu gewinnen. Dieses Entdecken und Erforschen treibt mich an. In Bibliotheken, Museen und Archiven fühle ich mich besonders wohl – dort entstehen oft schon die ersten Szenen. Das Jonglieren mit Fakten und Fiktion bereitet mir großen Spaß. Je weiter zurück man in die Vergangenheit eintaucht, desto mehr Freiheiten hat man als Geschichtenerzähler. Gleichzeitig ist es mir wichtig, einen Bezug zur Gegenwart herzustellen. Der großartige Comic „Goldjunge“ von Mikael Ross ist beispielsweise nicht nur eine Biografie über Beethoven, sondern auch eine Form der Sozialkritik. Ebenso kommentiert Max Baitingers Biografie „Sybilla“ über die Dichterin Sybilla Schwarz unsere Erinnerungskultur. In „Zeter und Mordio“ werden Bilder aufgebrochen, die sich bis heute in unserem kollektiven Gedächtnis festgesetzt haben. Ich selbst bin bei meiner Arbeit immer wieder darüber gestolpert und musste dann feststellen, dass alles ganz anders ist, als ich meinte zu wissen. Sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, heißt auch die Gegenwart zu hinterfragen.
Wie hast du es geschafft, das Thema jüdisches Leben im Hamburg des 17. Jahrhunderts auf humorvolle Weise in deinen Comic zu integrieren, ohne dabei den Humor unangebracht wirken zu lassen?
„Zeter und Mordio“ soll nicht nur in den Buchläden stehen, sondern auch im Rahmen des Projektes „Geschichtomat“ eingesetzt werden. Geschichtomat ist ein Bildungsprojekt in Hamburg, das sich an Schülerinnen und Schüler richtet und Themen rund um jüdische Geschichte sowie jüdisches Leben in Projektwochen erarbeitet. Es entstehen Videos und andere Beiträge, die anschließend in einen interaktiven Stadtplan eingearbeitet werden. Für die Arbeit mit jungen Menschen war es für das Buch wichtig, spannend und unterhaltsam zu sein. Glückels Memoiren wurden bewusst als Grundlage gewählt. Diese bieten eine Möglichkeit, jüdische Geschichte abseits der oft dominierenden Ernsthaftigkeit des Holocaust-Themas zu erzählen.
Das 17. Jahrhundert wirkt aus heutiger Sicht mit seinen Kostümen und Bräuchen ohnehin bereits befremdlich und auf seine Weise auch komisch. Der Humor in meinem Comic entsteht jedoch nicht durch übertriebene Darstellungen, sondern durch alltägliche Missgeschicke und Streitigkeiten – Situationen, die jeder kennt. Auch in den dunkelsten Zeiten stolpern wir über unsere eigenen Füße, und es tut gut, in solchen Momenten laut zu lachen. Immer wenn es dann in der Erzählung ernst wird, lasse ich Glückel selbst zu Wort kommen. Ihre Worte werden von stillen, ruhigen Zeichnungen begleitet, die den Leser innehalten lassen und Raum für Reflexion bieten.
Inwiefern besteht eine persönliche Verbindung zwischen dir und der Thematik des Buches?
In „Zeter und Mordio“ werden zwei jüdische Männer Opfer eines Mörders, der überzeugt ist, dass alle Juden reich sind, niemand sie vermissen würde und er keine Konsequenzen zu befürchten hat. Obwohl Meinecke kein überzeugter Antisemit wie Pastor Meyer ist, nutzt er das antijüdische Klima aus, um seine Verbrechen zu begehen. Dieses Phänomen tritt immer dann auf, wenn die Stimmung in einer Gesellschaft kippt – sei es gegen Juden, queere Menschen, Muslime, Flüchtlinge, People of Color oder andere, die nicht den Normen der Mehrheitsgesellschaft entsprechen.
Lange habe ich darüber nachgedacht, ob ich als Nicht-Jude diese Geschichte überhaupt erzählen kann. Schließlich bin ich jedoch zu dem Schluss gekommen, dass es in meiner Geschichte nicht nur um Jüdinnen und Juden geht, sondern um alle, die von Hass, Hetze und Ausgrenzung betroffen sind. Aktuell werden in Hamburg immer wieder queere Menschen in die Falle gelockt und angegriffen. Auch mir ist das vor längerer Zeit passiert, und damals habe ich aus Scham auf eine Anzeige bei der Polizei verzichtet. Auch wenn Antisemitismus, Rassismus und Homophobie in ihren Mechanismen unterschiedlich sind, haben sie doch den gleichen Effekt: Menschen erleiden Gewalt. Der erste Satz von Glückel, „Es hat einmal ein Mann in Altona gewohnt, der hat geheißen Abraham Metz“, wird bewusst am Ende der Graphic Novel wiederholt, um zu zeigen, dass dies nicht das Ende ist. Damit nehme ich nicht nur Bezug auf das Dritte Reich, sondern auch auf die aktuelle gesellschaftliche Stimmung.
Du sagst, dein Stil sei an klassische Comiczeichnende angelehnt. Von welchen Künstler*innen lässt du dich inspirieren und warum?
Die Frage ist für mich schwierig zu beantworten, denn ich lese unzählige Comics und nehme aus jedem etwas mit. Einer meiner Lieblingszeichner ist Gipi, dessen Buch „Die Welt der Söhne“ zu meinen absoluten Favoriten zählt. Was mich besonders an Gipis Stil fasziniert, ist, wie er es schafft, komplexe Emotionen und Geschichten allein durch Blicke und Körpersprache seiner Figuren zu vermitteln. Worte sind oft gar nicht nötig. Auch die Landschaft und Szenerie spielen in seinen Comics eine herausragende Rolle und tragen maßgeblich zur Atmosphäre bei.
Auf YouTube gibt es Videos, die zeigen, wie Gipi direkt auf das Papier zeichnet und koloriert. Diese Direktheit und Unmittelbarkeit spiegelt sich auch in seinen Büchern wider. Als ich beim letzten Comicsalon vor den Originalen aus „Die Welt der Söhne“ stand, war ich tief bewegt. Ich hatte gar nicht damit gerechnet, dass die Zeichnungen in einer Gruppenausstellung hängen.
Comics begleiten mich schon, seit ich denken kann.
Angefangen hat alles mit „Petzi“, den „Lustigen Taschenbüchern“, „Tim und Struppi“, „Lucky Luke“, „Asterix“ und „Peanuts“. Später kamen „Yoko Tsuno“, „Elf Quest“, „Spider-Man“, „The Sandman“, „Maus“ und viele andere dazu. Seit ich Comics lese, versuche ich auch, selbst welche zu zeichnen. Dabei dienten mir diese klassischen Werke als Vorbilder. Was man sich in diesen jungen Jahren aneignet, wird man nicht mehr los. Erst während meines Studiums wurde mir bewusst, dass man auch anders erzählen kann – experimentell und avantgardistisch. Besonders beeindruckt bin ich von Zeichner*innen, die ganz eigene Erzählweisen entwickeln und damit immer wieder neue Wege im Medium Comic aufzeigen.
„Zeter und Mordio“ war Teil einer Gruppenausstellung zum Thema „Jüdische Geschichte im Comic“ auf dem diesjährigen Comicfestival Hamburg. Hamburg ist eine der, wenn nicht die Hochburg der unabhängigen Comicszene in Deutschland. Welche Rolle hat die Stadt und das Kreativen-Netzwerk für dich und deine zeichnerische Entwicklung gespielt? Was ist das Besondere an Hamburg für dich als Zeichner und Autor?
Meine Beziehung zur Comicszene war anfangs kompliziert. Das Zentrum ist die HAW, wo ich auch Illustration studiert habe. Im Comicbereich wehte dort ein bestimmter Wind, mit dem ich anfangs nicht so gut zurechtkam. Das lag aber sicher auch an mir. Hinzu kam, dass ich mit Anfang 30 älter war als die meisten anderen Studierenden und neben dem Studium viel arbeiten musste, um meinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Das Comiczeichnen, das ohnehin extrem zeitaufwendig ist, rückte dadurch fast in den Hintergrund, und ich war kurz davor, es ganz aufzugeben. Dann kam Birgit Weyhe als Dozentin an die Hochschule und bestärkte mich darin weiterzumachen. Ich schloss schließlich mein Studium ab, um die Hochschule hinter mir zu lassen, suchte mir einen gut bezahlten Brotjob und begann erneut mit dem Comiczeichnen. Ab diesem Punkt wurde mir bewusst, wie wichtig und wertvoll die Freundschaften und Kontakte waren, die ich während meines Studiums geknüpft hatte.
Während der Arbeit an „Zeter und Mordio“ habe ich immer wieder andere Zeichner*innen gebeten, meine Arbeit zu lesen, und wertvolle Tipps bekommen. Es war großartig, dass wir unsere Veranstaltung zum Thema jüdische Geschichte in Kooperation mit dem Comicfestival Hamburg organisieren konnten. Bei Fragen zu Ausstellungs- oder Veranstaltungsräumen, Druckereien oder auch einfach zur Steuererklärung findet man durch das Netzwerk immer jemanden, der einem helfen kann. Die Szene ist sehr lebendig. Es entstehen immer wieder neue Facetten, wie der Hamburger Comicpreis, Lese- und Aktionsreihen und Residenzprogramme. Zum Comicfestival oder zu den Graphic-Novel-Tagen kommen auch internationale Comicgrößen in die Stadt und sind sehr begeistert.
Magst du uns abschließend noch erzählen, ob es schon ein neues Projekt gibt, an dem du zurzeit arbeitest?
Meine Großeltern väterlicherseits waren überzeugte Nationalsozialisten, und mein Onkel ist offen rechts. Als ich in den 90er Jahren in der Lüneburger Heide aufwuchs, war es dort absolut salonfähig, Neonazi zu sein – und das ist es leider in einigen Gegenden bis heute. Nur wenige Kilometer von meinem Heimatdorf entfernt liegt die Gedenkstätte Bergen-Belsen, auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers. Wir haben sie oft mit der Schule besucht, und das Thema NS-Vergangenheit und Shoah wurde im Unterricht intensiv behandelt. Doch innerhalb meiner Familie wurde darüber nie richtig gesprochen. Diese Spannung war für mich als Heranwachsender schwer zu ertragen, und es war schwierig, Antworten zu finden. Meine Generation beginnt gerade erst, dieses Erbe zu verarbeiten. Dabei wird immer wieder deutlich – besonders mit Blick auf die heutige politische Stimmung –, dass unsere Erinnerungskultur deutliche Lücken aufweist.
Ich habe in den letzten Jahren viele Anekdoten, Geschichten und Berichte aus meiner Heimat gesammelt und bin gerade dabei, diese in Form einer Familiensaga aufzuarbeiten, die vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die 90er Jahre reicht. Ich konzentriere mich dabei nicht auf die Zeiten der großen Umbrüche, sondern vor allem die Zeiten dazwischen, in denen vermeintlich nichts passiert ist. Es geht mir dabei um das erzählerische Erforschen von gesellschaftlichen Versäumnissen und die zentrale Frage, warum das Gespenst des Nationalismus trotz unserer deutschen Vergangenheit immer noch umgeht.
Das Interview wurde von Luisa Heinemann/avant-verlag geführt.
Jens Cornils: Zeter und Mordio • Avant-Verlag, Berlin 2024 • 224 Seiten • Hardcover • 25 Euro