„Eine moderne Form der Sklaverei“

Der Berliner Comickünstler Mikael Ross ist bekannt für gut recherchierte Biografien und Milieustudien: die Beethoven-Erzählung „Goldjunge“, die Graphic Novel „Der Umfall“ über Noel, einen Jungen mit Down-Syndrom. Nun hat Ross mit „Der verkehrte Himmel“ einen Krimi vorgelegt, den er im Jugendmilieu Berlin-Lichtenbergs ansiedelt. (Hier unsere Kritik von Andrea Heinze.) Über den Hintergrund des Projekts spricht er im folgenden Presse-Interview.

Lieber Mikael, vielen Dank, dass du dir die Zeit für uns nimmst. Könntest du eingangs ein paar Worte über dich und deinen Werdegang verlieren?

Ich zeichne eigentlich schon, seit ich denken kann, und von Comics war ich von Anfang an begeistert. Aber der Weg zum Comiczeichner, der war dann doch ein längerer und über viele glückliche Umwege. Ich habe eine Ausbildung zum Theaterschneider absolviert, an verschiedenen Opernhäusern in Deutschland gearbeitet und bin dann von München nach Berlin gezogen, um Mode zu studieren. Comiczeichnen habe ich immer nach Feierabend als Hobby betrieben. Bis es dann zu einem Auslandsjahr in Brüssel gekommen ist. Dort im Fachbereich Bande dessinée ist mir dann klar geworden, dass Comics in meinem Leben einen wichtigeren Platz als ein Hobby einnehmen müssen.

„Der verkehrte Himmel“ dreht sich um die drei Jugendlichen Alex, Tâm und Dennis aus Berlin-Lichtenberg, die auf ein vietnamesisches Mädchen stoßen, das in die Fänge von Menschenhändlern geraten ist. Kein leicht zugängliches Szenario. Wie bist du darauf gekommen?

Zum einem hat meine Arbeit als Aushilfslehrer in Lichtenberg seit 2015 dazu geführt, dass ich unbedingt eine Geschichte erzählen wollte, die in dem Bezirk spielt. Und zum anderen gibt es die tatsächliche Verbindung des Viertels mit dem Thema Human Trafficking. Man kann in Presseberichten und Dokus über Menschenhandel in Deutschland nachlesen, dass eine der Schleuserrouten über Berlin führt. Innerhalb Berlins tauchen dann in den Schlagzeilen oft bestimmte Bezirke auf, darunter auch Lichtenberg. Mich hat das schockiert, wie an ein und demselben Ort eine moderne Form der Sklaverei parallel zum völlig normalen alltäglichen Leben existiert. Von diesem Widerspruch wollte ich erzählen.

In deiner Geschichte thematisierst du unter anderem die vietnamesische Community in Berlin, Migration und Menschenhandel. Es ist eine besondere Herausforderung, als Außenstehender die Perspektiven und Geschichten einer marginalisierten Gruppe respektvoll zu vermitteln. Wie hast du das für dich gelöst, was oder wer hat dir im Entstehungsprozess geholfen?

Meine Geschichte ist ja eine Fiktion. Es handelt sich also nicht um die Realität, und darauf muss man, denke ich, hinweisen. Es handelt sich also ausdrücklich weder um eine Doku noch um ein journalistisches Projekt. In der Recherche für diese Fiktion gab es zwei Hauptfelder. Den Menschenhandel, der an sich ein äußerst komplexes Recherche-Feld darstellt. Hier haben mir vor allem Vereine geholfen, die mit Opfern von Menschenhandel arbeiten, und auch von Journalisten recherchierte Artikel, Interviews, Podcasts und Dokumentarfilme.

Im zweiten Feld, das mit Menschenhandel gar nichts zu tun hat, ging es mir darum, die beiden viet-deutschen Hauptfiguren, Tâm und Dennis, zu schreiben und zu zeichnen. Dafür waren Interviews mit Viet-Deutschen sehr hilfsreich. Diese Interviews haben mir geholfen, möglichst viel zu verstehen und zu recherchieren, und mir wurde sehr geduldig und sachkundig vieles Spezifische erklärt. Eine weitere Quelle waren Podcasts aus der viet-deutschen Community, die oft sehr aufschlussreich darüber sind, was es bedeuten kann, als Kind vietnamesischer Eltern in Deutschland aufgewachsen zu sein. Ein weiterer und vielleicht der wichtigste Anhaltspunkt waren für mich die viet-deutschen Schüler*innen, die ich durch meine Arbeit als Hilfslehrer seit 2015 kennenlernen durfte. Ohne diesen direkten Kontakt wäre ich auch gar nicht auf diese Idee gekommen.

Mit dem Geschwisterpaar Dennis und Tâm und vielen mehr begegnen wir einer Menge charakterstarken Figuren, die jeweils ihren eigenen Twist in die Handlung einbringen. Kannst du uns einen Einblick in die Art und Weise geben, wie du deine Figuren konstruierst? Hattest du reale Vorbilder?

Nochmals der Hinweis: Meine Figuren sind alle fiktiv. Dennoch haben mit Sicherheit die Schüler, die ich in Lichtenberg über die Jahre kennengelernt habe, ihren Einfluss gehabt. Es ist ein bisschen wie bei „Der Umfall“. Die Figuren sind nicht konkret an jemanden angelehnt, aber sie entstehen durch eine ganze Reihe von realen Einflüssen. Und es geht mir tatsächlich wie vielen Autor*innen: Ab einem gewissen Punkt folgen die Figuren ihrer eigenen Logik und überraschen dann auch mich selbst.

Magst du uns einen Einblick in deine künstlerische Arbeit geben? Wie ist „Der verkehrte Himmel“ entstanden, wie hast du analoge und digitale Zeichentechniken kombiniert? Und warum hast du dich für den Einsatz der Farbe, die ja an ganz besonderen Momenten im Buch auftauchen, entschieden?

„Der verkehrte Himmel“ ist bei mir – wie immer – auf Papier entstanden. Ich arbeite da ganz klassisch. Dass das Buch in schwarzweiß ist, hat mit meiner eigenen Faszination für Schwarzweiß-Zeichnungen zu tun. Ich wollte ausprobieren, ob ich den flimmernden Berliner Sommer, die „Betonhitze“, wie Dennis es im Buch nennt, in schwarzweiß einfangen kann. Dazu hat das Buch einen Halbtonraster-Effekt erhalten, der von Inês Gomes Ferreira digital hinzugefügt wurde. Eine klassische Technik aus dem Manga. Dass dann doch die Farbe in der Geschichte auftaucht, hat sich im Entstehungsprozess so ergeben. Es gibt im Buch eine Liebesgeschichte, und diesen Moment, in dem es das erste mal so richtig klar wird, wollte ich durch die Farbe besonders hervorheben.

Nach über 300 Seiten Spannung erwartet die Leser*innen ein Ende, das aus dem happily-ever-after-Raster ausbricht und im Gedächtnis bleibt. Was schätzt du als Autor erzählperspektivisch an solchen Enden?

Ich denke, dass viele Leser*innen sich gar nicht unbedingt ein Happy-End wünschen. Weil wir ja alle irgendwo wissen, dass sich das Leben meistens nicht nach unseren Vorstellungen richtet. Das soll natürlich nicht heißen, dass jede Geschichte schlecht ausgehen muss! Aber gerade bei dem Thema Menschenhandel befürchte ich, dass ein glückliches Ende einfach nicht zu einer Realität passt, die in so vielen Fällen leider kein glückliches Ende kennt.

Mikael Ross: Der verkehrte Himmel • Avant-Verlag, Berlin 2024 • 304 Seiten • Softcover • 28,00 Euro