Destruktive Robinsonade – „Herr der Fliegen“

Die niederländische Comickünstlerin Aimée de Jongh hat William Goldings Literaturklassiker als Comic adaptiert.

Der Blick aus dem tiefen, dichten Grün des Urwalds hinauf ins Unbestimmte des Himmels eröffnet Aimée de Jonghs Graphic Novel „Herr der Fliegen“ nach dem gleichnamigen Romanklassiker von William Golding. In einer „Nahaufnahme“ krallen sich kurz darauf Kinderhände in die Erde, um eine felsige Anhöhe zu erklimmen. Eine Sequenz aus einzelnen Panels zerlegt die Kletterbewegung in detaillierte Bildausschnitte. Vom kleinen Gipfel aus, gerahmt von Palmen, blickt der Junge dann in einer Totalen über das Meer in die weite Ferne. Vor dem Offenen wirkt das Kind allein und verloren. Tatsächlich ist der 12-jährige Ralph, dessen Gesicht unter dem blonden, struppigen Haarschopf zerkratzt ist und der eine rote, schmutzige Schuluniform trägt, zunächst auf sich allein gestellt. Die niederländische Comiczeichnerin Aimée de Jongh, die auch Animationsfilme dreht, gestaltet bereits die Exposition ihrer Romanadaption sehr filmisch. Zwischen Nähe und Distanz führt ihre mit kräftigen Farben illustrierte Bildergeschichte, die Originalzitate verwendet, oft aber auch ohne Worte auskommt, sukzessive ins Zentrum einer destruktiven Robinsonade.

Als Ralph kurz darauf nämlich weitere Kinder trifft, die offensichtlich einen Flugzeugabsturz überlebt haben, wird nach einem ersten Erkundungsgang bald klar, dass sie sich auf einer kleinen, sonst menschenleeren Insel befinden. Ohne Erwachsene, aber mit bereits internalisiertem Sozialverhalten, beginnen die verwaisten Kinder nun, unter der von Anfang an umstrittenen Führung von Ralph ihren Alltag, ihr Überleben und eine mögliche Rettung zu organisieren. Was zunächst demokratisch aussieht und durch die Aufgabenverteilung ein gleichberechtigtes, soziales Miteinander als Keimzelle von Gesellschaft zu garantieren scheint, gerät durch Rivalitäten und konkurrierende Machtansprüche unter Druck. Ralphs Gegenspieler Jack, der mit seiner Bande von „Jägern“ das Wilde und Antizivilisatorische verkörpert, beansprucht nämlich zunehmend das Recht des Stärkeren und wendet dafür rohe Gewalt an. Während Ralph und seine Getreuen – der kluge, aber als Außenseiter gehänselte „Piggy“ sowie der ebenso sensible wie verträumte Simon – mit dem Bau von Hütten und einem Signalfeuer am Zivilisatorischen festhalten, überlassen sich die Jäger immer mehr dunklen, irrationalen Kräften. Diese kulminieren schließlich in blutrünstigen Opferritualen und nackter Gewalt.

Die vielfach ausgezeichnete Aimée de Jongh gestaltet diese Parabel über zerstörerische menschliche Gewalt, über irrationale Triebe und die Auflösung der sozialen Ordnung als höchst spannende Panelerzählung, deren Dramatik durch schnelle Bildwechsel erzeugt wird. Unterbrochen werden diese durch Erinnerungen, Träume und Momente einer idyllischen Ruhe. Doch die Sehnsucht nach Frieden wird kontrastiert durch blutige Gewalt; und das vermeintliche Paradies verwandelt sich in ein flammendes Inferno. In den zwölf Kapiteln des mitreißenden Bandes, mit dem die Comickünstlerin eine klare Zeichnung mit viel Gefühl verbindet, wandeln sich das satte Grün der Natur und das ferne Blau der Sehnsucht immer mehr zu einem Rot aus Feuer und Blut. Gerade in der gegenwärtigen Zeit besitzt das Buch leider eine diesbezüglich „brennende“ Aktualität und kann insofern als Mahnung verstanden werden, die gesellschaftlichen Errungenschaften nicht den zersetzenden Kräften von Gewalt und Zerstörung zu überlassen; beziehungsweise nicht, wie es am Ende des Buches mit den Worten von William Golding heißt, der „Finsternis im Herzen der Menschen“.

Aimée de Jongh: Herr der Fliegen • Aus dem Englischen von Tanja Krämling • Splitter Verlag, Bielefeld 2024 • 352/360 (VZA) Seiten • Hardcover • 35,00/49,80 (VZA) Euro

Wolfgang Nierlin, geboren 1965. Studium der Germanistik, Philosophie und Psychologie in Heidelberg. Gedichtveröffentlichungen in den Zeitschriften metamorphosen und Van Goghs Ohr. Schreibt Film- und Literaturbesprechungen für Zeitungen (Rhein-Neckar-Zeitung, Mannheimer Morgen u. a.) sowie Fachzeitschriften (Filmbulletin, Filmgazette u. a.). Langjährige Mitarbeit im Programmrat des Heidelberger kommunalen Karlstorkinos.